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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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war ich. Mein Zug kam und kam nicht zum Stehen, sondern glitt funkensprühend und quietschend unaufhaltsam Richtung Abgrund. Es ging mir elend.
    Amerika war meine Hoffnung gewesen. Doch für eine Universität mit exzellenter Ausbildung wollte ich hier nicht vegetieren. Gegen New York erschienen mir die Wälder Vermonts wie eine geheizte Herberge mit Federbett. Zwar lebte ich auf Vermont Academy ohne Munterkeit, doch immerhin hatte ich dort den Wald und die Stille.

    In der Stille Vermonts jedoch standen mir schon bald Arztbesuche im Dartmouth-Hitchcock Medical Center bevor, wo ich auf Drängen meiner Eltern hinsollte, um mich untersuchen zu lassen. Ich kam dort zu einem sehr eleganten Arzt mit schwarzen, zurückgelegten Haaren. Er sah aus, als habe er eine zarte, indische Mutter mit schmeichelhaften Wangenknochen. Über seinen dunklen Augen lagen dicke Brauen. Am Ende der schlanken Finger wuchsen glatte, elfenbeinfarbene Fingernägel.
    Mr. Hibbler zeigte sich ganz erstaunt, als ich bei ihm für die Sprechstunde auschecken musste. Ins Dartmouth Medical Center wurden von unserer Schule eigentlich nur bewusstlos geschlagene oder sonstwie schwer verletzte Footballspieler mit dem Helikopter eingeflogen – ich aber wurde hingeschickt, um mich auf Herz und Nieren untersuchen zu lassen und mich auf die Waage zu stellen. Ich selbst wog mich nie.
    »Wenn man dich über die Straße gehen sieht und zehn Leute fragt, ob sie dich zu dünn finden, würden neun ›ja‹ sagen«, sprach der Arzt in einem väterlich besorgten Ton. Mit im Schoß verschränkten Händen saß ich vor ihm und schämte mich wie ein kleines Kind. Ich hatte Unfug angestellt und fürchtete, dass er irreparabel war. Ich gestand, womöglich zu wenig zu essen für die körperliche Anstrengung, welche die Schule mir abverlangte. Von meinem seelischen Zustand sagte ich zunächst nichts. Doch seine liebevollen Blicke begegneten mir mit Mitleid, mit einer Güte, die mir in letzter Zeit so sehr fehlte. Ich verliebte mich ein bisschen in den Arzt und schrie innerlich, er möge mich einfach in den Arm nehmen und von hier entführen. Ich war bereit, mir eine Waffe zu besorgen, mit ihm eine Bank auszurauben und auf der Flucht tagelang mit dem Auto über die Highways nach Süden zu fahren. Ich würde mich etliche Stunden mit ihm unterhalten, könnte endlich loswerden, dass ich nicht so war, wie ich beim Ersteindruck wahrscheinlich auf ihn gewirkt hatte. Tief in mir drin will ich Cowboy sein, hätte ich ihm offenbart, und dass ich am liebsten alleine in einer Blockhütte wohnen und Rinder und Pferde besitzen würde. Ich würde Antworten von ihm verlangen auf meine Fragen, wo ich nur hinsollte, wo ich hingehörte. Irgendwo im Kornfeld von Iowa würden wir von der Polizei gestellt werden und im Kugelhagel sterben.
    Aber die Zeit der Sprechstunde war begrenzt, und ich nahm seine weiche Hand in meine und musste auf Wiedersehen sagen. Aber es gab kein Wiedersehen. Beim nächsten Termin, der einen Monat später angesetzt worden war, teilte man mir mit, dass der Arzt befördert worden sei und nicht mehr in dieser Abteilung arbeite. Man empfahl mir ärztliche Betreuung in der näheren Umgebung der Schule.
    So saß ich kurze Zeit später bei einer Ernährungsberaterin in der nächstgrößeren Stadt, dreißig Minuten von Saxtons River. Die Frau dort war mir gar nicht sympathisch, denn sie fragte mich, warum ich den Orangensaft, den ich zum Frühstück trank, mit Wasser mischte. Sie vermutete, ich mische ihn mit Wasser, um Kalorien zu sparen. Jede meiner Essgewohnheiten wurde auf die psychologische Waage gelegt. Psychologie war mir aber so zuwider, dass ich ihr ein bisschen was vorlog, und sie mir schließlich riet, weniger Sport zu treiben, und mir einen Kalorien-Shake empfahl, den ich nach jeder Mahlzeit einnehmen sollte. Super!, dachte ich und nahm den Shake einfach statt der Mahlzeit ein. Das sparte Zeit und Ärger.
    Das Netz aus Therapeuten und Beratern wurde wieder enger gestrickt. Die Lehrer wurden netter und lächelten mich an, wenn sie mir auf dem Campus begegneten. Etwas stimmte nicht mit mir. Ich stand unter Beobachtung.
    Der Griff um meinen Hals wurde wieder todsicher. Und in mir wuchs die zerstörerische Kraft, die mich langsam in die Knie zwang. Ich hasste mich für mein Versagen.
    Weiterhin notierte ich diese unheimlichen Veränderungen in mir in meinen Tagesnotizen und deutete das Gefühl des Gescheitertseins an. Volle Kraft voraus war ich gegen die Wand meiner

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