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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Einige unserer Tiere waren getroffen, eins der Mulis sank in die Knie, die Pferde versuchten sich aus dem engen Verbund zu befreien – vergeblich. Bei der fünften Umrundung stolperte eines der Indianerpferde und stürzte zur Seite. Der Reiter flog hilflos ins Gras, und ehe er sich aufrichten konnte, traf ihn die tödliche Kugel aus der Remington meines Bruders in den Rumpf.
    Wir schrien auf.
    »Einer weniger!«, meinte er. »Ich wusste, dich krieg ich, du angemalte Rothaut. Nicht schießen«, schrie er zu mir, »bis ich nachgeladen habe.« Das waren seine letzten Worte. Noch während er sein Gewehr lud, durchbohrte ein Pfeil seinen Schädel. Stöhnend sank er zur Erde. Ich war fast blind vor Schock – niemals hatte ich Derartiges gesehen. In Todesangst stürzte ich mich auf ihn. »Tom!«, schrie ich.
    »Tom!«, hörte ich meinen gellenden Schrei. Ich hob seinen leblosen Körper an meine Brust. Die Spitze hatte sich durchs Auge in seinen Kopf gebohrt, kein Atemzug verließ seine Brust. Nun stürzten die roten Krieger auf mich. Wie eine lebendige Flut überwältigten sie mich. Ich kämpfte mit bloßen Händen. Nur in Bruchteilen von Sekunden sah ich, wie ein Indianer von blutenden Wunden bedeckt in sich zusammensank. Schreie hallten in meinen tauben Ohren. In Panik rief ich nach meiner Mutter. Kurz darauf traf mich ein gewaltiger Schlag am Kopf, jäh erstarben die Geräusche um mich herum. Es fühlte sich an, als stürze ich von einer meterhohen Klippe in den Abgrund. Dann wurde es schlagartig schwarz.

    Als Kind hatte ich mir manchmal vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn ich eines Morgens tot im Bett läge. Ich stellte mir vor, dass meine Mutter ins Zimmer kommen würde, um mich zu wecken, und ich mich nicht rührte. Ich stellte mir vor, dass ich von oben zusah, wie alle ums Bett herumstanden und versuchten, mit mir zu reden. Aber ich war ja tot. Ich würde mir alles genau ansehen von da oben, wo ich säße. Und dann wurde mir klar, dass ich, wenn ich tot wäre, auch nicht mehr mit meinen Eltern reden könnte. Ich rief zwar: »Hallo, hier oben bin ich! Ich bin doch hier!«, aber sie hörten mich nicht.
    Die Vorstellung beängstigte mich, und so beschloss ich, dann doch lieber am Leben zu bleiben.

    Hier lag ich also: niedergestreckt, achtzehn Jahre alt, ein Nichts. Ich öffnete die Augen. Um mich herum eiskaltes Mondlicht und die Umrisse meines Bettes, die Kanten des Fernsehers, das rote Auge. Es war totenstill. Ich stellte fest, dass ich noch atmete. Ich wusste meinen Namen und konnte bis zehn zählen, das Alphabet aber hätte ich nicht mehr rückwärts aufsagen können. Da zerrte etwas an mir. Da lag etwas in der Luft. Ich wurde fortgetragen. Ich gab mich einer wunderbaren Kraft hin. Alles an mir wurde leichter – alle Ängste waren verschwunden. Doch ich hatte mich nicht verabschiedet! Wenn ich einmal dort oben angekommen war, gab es kein Zurück mehr. Warte, wollte ich überhaupt sterben? Ich verharrte.
    Es wäre sicherlich der einfachere Weg. Ich dachte an all das Kämpfen, an all die Menschen und Psychologen, die an mir rumgefummelt hatten. All die Schlachtfelder führte ich mir vor Augen, die ich durchmessen und hinter mir gelassen hatte. Keine gute Erinnerung schien da mehr übrig geblieben zu sein. Aber ich war nie den einfachen Weg gegangen. Es passte nicht zu mir, hinzuschmeißen und aufzugeben.
    Wollte ich denn leben?
    All die schönen Momente, die ich schon hatte erleben dürfen, führte ich mir vor Augen. Da wartete noch ganz viel auf mich, und ich musste jetzt damit anfangen, mein Leben selbst zu gestalten – so, wie ich es leben wollte. Wenn ich frei sein wollte, durfte ich hier nicht abkratzen. Ich musste handeln, ich musste das Leben packen und schütteln. Niemand sonst konnte das für mich erledigen. Nur ich.
    Zu lange hatte ich mich anderen überlassen, es wurde Zeit, mich selbst zu gestalten. So zu sein, wie ich bin. Ein Cowboy.
    Ich hob meinen Oberkörper hoch und sah aus dem Fenster. Der Mond brachte den Schnee zum Leuchten. Die Gesteinsmasse der Berge war mir in dem Moment das Sinnbild von Schwerkraft. Bleib hier, dachte ich. Nicht wegfliegen.
    Ich konnte nicht aufgeben, auch wenn da immer die Verlockung bleiben würde, das Paradies der Realität vorzuziehen. Ich musste mir eine zweite Chance geben, ich wollte es wenigstens versucht haben auszubrechen.
    Kaum hatte ich diese Entscheidung getroffen, kam es zurück, das Ich. Etwas flackerte in mir auf, es war Wille, aber ein

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