Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
fürsorglich und liebevoll.
Ich fühlte mich gerettet. Der Dämon wurde leiser, verzog sich auf einen der Stühle und nickte ein. Mein Vater blieb noch eine Weile neben mir und fragte immer wieder, ob alles gut sei. Man diagnostizierte eine Lungenentzündung, was ich aber nicht mehr mitbekam. Ich fiel in ein Delirium, halb erleichtert, halb tot, halb schlafend. Das Fieber stieg an. Ich träumte, ohne richtig zu schlafen.
Meine ganze Familie ist am Strand versammelt und schaut einem braungebrannten Typen zu, der eine neue Wassersportart betreibt. Sie singen dazu, und es läuft Musik wie in einer Surferdoku. Kaum hat er seine Vorstellung beendet, rollt eine gigantische Welle heran und überspült den ganzen Strand, reißt die Fenster der Busstation in Littenheid ein und zerstört mein Weihnachtsgeschenk, das ich für meine Eltern bereitgelegt habe. Alles schwimmt im Wasser, die Menschen können sich gerade noch so vor dem Ertrinken retten.
Die erste Nacht verging und die zweite. Als sich mein Zustand stabilisiert hatte, verlegte man mich auf ein Zimmer.
Die Schmerzen in den Lungen brannten, und es fühlte sich an, als lägen Wackersteine auf meiner Brust, die ich durchs Atmen kaum anheben konnte. Manchmal wachte ich in der Nacht auf und klingelte nach der Schwester, weil ich glaubte, ich würde ersticken.
Von den Antibiotika wurde mir speiübel. Appetitlos saß ich zur entsprechenden Tageszeit vor dem Tablett mit Essen und konnte kaum hinsehen. Mein Gewicht sank innerhalb von drei Tagen auf 37 Kilo. Die Tage schienen endlos, die Nächte vergingen im Rhythmus von Wachen und Schlafen, Fieberträume verfolgten mich.
Tagelang schwamm ich auf dem Lammfell, das man mir als Unterlage ins Bett gelegt hatte, durch die Zeit. Meine Mutter kam vorbei und brachte Hörkassetten und Zeitschriften. Doch ich konnte nichts hören, nichts sehen, nichts lesen. Mir taten die Knochen weh, und ich schaffte es gerade, mich zur Toilette zu schleppen. In den Spiegel über dem Waschbecken zu schauen, traute ich mich nicht, aus Angst, nichts darin zu sehen. Ich starrte an mir hinunter und dachte immer wieder: weniger geht nicht, weniger überlebe ich nicht. Dann wankte ich zurück ins Bett.
Ich wachte und schlief. Das Fieber blieb hoch.
Morgens lag weißes Licht auf meiner Bettwäsche und dem Linoleumfußboden. Die Wintersonne knallte auf die weißen Wände, die mich umgaben. Ich sah, den Kopf zur linken Seite geneigt, aus meinem Fenster in die strahlende Engadiner Sonne auf den unfassbar weißen, dicken Schnee und die Berge. Unterhalb des Spitals befand sich eine dick verschneite Weide, die nur noch an den fünf Zentimetern Holzzaun, der ringsherum aus dem Schnee ragte, als Weide zu erkennen war. Auf dieser Weide standen ein Wassertank und ein verrosteter Wagen, in dem manchmal Heu steckte. Und auf dieser Weide standen Kühe. Sie waren bis zum Bauch im Schnee eingesunken, und ich fragte mich, wie sie sich überhaupt fortbewegen konnten, um zum Heu zu gelangen. Sie standen einfach da, in der Sonne, taten- und bewegungslos.
Jeden Morgen, wenn die Sonne wieder aufging oder wenn mal ein Sturm fegte oder Nebel im Tal hing, schaute ich auf diese Kühe, die im Schnee feststeckten.
Ich weiß nicht, wie viele Tage ich so lag. Nachts wartete ich mit offenen Augen. Ich glaube, ich wartete darauf, dass endlich der Tod kam. Doch er ließ auf sich warten. Ich rief nach der Schwester, sie gab mir eine Tablette und verließ mich wieder. Ich schloss nur die Augen, wollte nicht schlafen. In meinen Ohren sauste das Fieber, ich glaubte, Stimmen zu hören, glaubte, ich würde mich sehen, wie ich damals im Garten mit meinem Bruder Cowboy und Indianer gespielt hatte. Und was als friedliches Spiel begonnen hatte, wurde zum Alptraum.
»Zurück!«, rief mir mein Bruder mit bebender Stimme zu. »Sie haben uns gesehen!« Je näher die Indianer auf ihren Pferden kamen, desto deutlicher konnte ich ihre nackten Oberkörper erkennen und den blinkenden Schmuck an Beinen und Brust, den ich schon aus der Ferne wahrgenommen hatte. Mit schrecklichen, blutrünstigen Schreien preschten sie heran.
Ich war vor Schock verstummt, nur mein Bruder schien die Sinne zu bewahren. In seinen Augen glaubte ich das Feuer eines erbitterten Kämpfers zu sehen. Ich tat, was er mir befahl. Behende sprang er vom Bock unseres Wagens und machte die Mulis vom Geschirr los. Er gab mir ein Zeichen, ich solle vom Pferd steigen. Im nächsten Augenblick hatte er die Mulis hinter unserem Wagen
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