Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
öffneten wir die Türen.
Ich lernte Kaffee machen, besuchte dafür auch eine Schulung, und musste natürlich die Kasse bedienen. Hier sah ich mich oft mit meiner Rechenschwäche konfrontiert: Die Verwirrung trat zum Beispiel ein, wenn mir jemand auf einen Betrag von zwölf Franken und 55 Rappen fünfzig Franken und 55 Rappen in die Hand drückte. Da ich in die Kasse schon den Betrag von fünfzig Franken eingetippt hatte, zeigte mir die Kasse 37 Franken und 45 Rappen als Rückgeldsumme an, eine schon an sich verwirrende Zahl. Und dann sagte mein Gegenüber auch noch: »Ach, ich habe ja zwei Franken und 55 Rappen.« Da verstand ich gar nichts mehr. Es war mir peinlich, weil der Kunde anfing zu lachen: »Sie stehen hier an der Kasse und können nicht rechnen?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und musste bitten, dass er mir sagte, wie viel Rückgeld ich ihm nun schuldig war.
Nebenbei bediente ich und lernte die kuriosen Wünsche der Kunden kennen. Nach der Klinik und dem Krankenhaus, nach der Abgeschiedenheit, wollte ich den Umgang mit den Menschen wieder lernen. Ich genoss es, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, sie zu studieren und auf sie einzugehen. Ich stellte fest, dass die Menschen eigentlich nicht schlimm waren, sie waren wie Wachs, man musste sie erwärmen, um sie formen zu können. Natürlich stellten manche meine ersten Kaffees zurück auf den Tresen und meinten: »Das ist kein Cappuccino!«
Ich hasste Kritik und arbeitete hart daran, die Milch zu einem cremigen, dichten Milchschaum von höchstens 60 Grad Celsius aufzuschäumen.
Es gab eine Frau, die immer »heißes Wasser mit aufgeschäumter Milch« bestellte. Wochenlang fragte ich mich, was zum Teufel diese Frau hatte, dass sie heißes Wasser mit Milch trank. Bis ich irgendwann nachfragte und erfuhr, dass sie den Becher ins Büro nahm und dort einen Teebeutel reinhängte.
Ein anderer kam jeden Morgen Punkt halb zehn, bestellte Milchkaffee, setzte sich auf den immer gleichen Stuhl und las eine geschlagene Stunde die Zeitung.
Wieder ein anderer kam täglich Punkt acht Uhr und bestellte einen Espresso und einen Blueberry Muffin. Er muss etwa dreißig Jahre alt gewesen sein, hatte ein breites Gesicht und krauses, langes Haar, das ihm bis fast auf die Schultern reichte. Mir fiel auf, dass er immer die gleichen ausgefransten Turnschuhe anhatte. Er war kaum größer als ich, trug einen Rucksack und kam immer mit einem Kickboard. Jedes Mal unterhielt ich mich ein bisschen mit ihm, und zog dabei seinen Espresso. Doch die Unterhaltung konnte schon mal fünfzehn Minuten dauern, und das, obwohl ein Espresso nur fünfundzwanzig Sekunden in die Tasse läuft. Den Muffin nahm er sich immer mit.
Zum ersten Mal seit Monaten führte ich freundliche Gespräche, in denen es nicht um die Länge oder die Anzahl von Schnitten im Unterarm ging. Ich interessierte mich dafür, was andere in ihrem Alltag machten, wie sie diese Zeit, die wir Leben nennen, für sich gestalteten. Völlig unvoreingenommen redete ich dahin, freute mich an meinem Nächsten und saugte alles förmlich auf. Ich war immer noch sehr dünn, mein Körper produzierte kein einziges weibliches Hormon, und daher machte ich mir auch keine Gedanken darüber, dass Männer von Frauen angezogen sein konnten.
»Übrigens, ich bin Mark«, sagte der Blueberry-Muffin-Mann eines Morgens.
»Louise«, entgegnete ich strahlend.
Die Wochen vergingen, und »Espresso mit Blueberry Muffin« erschien täglich. Mark blieb immer länger am Tresen hängen, und er erzählte viel von seiner Arbeit und dem Kickboardfahren. Manchmal musste ich bitten, das Gespräch auf morgen zu verlegen, da ich zu tun hatte. Dann verabschiedete er sich mit einem breiten Lachen und einer Kopfbewegung, die seine Locken hüpfen ließen, und rollte aus dem Laden. Bald ahnte ich, dass da etwas im Gang war. Mir kam eines Tages der Gedanke, dass Mark mich vielleicht mögen könnte. Jeden Morgen stand er wieder da: »Einen Espresso und einen Blueberry Muffin.«
Ich fand ja gar nichts an ihm, ich war einfach nur dankbar, dass sich überhaupt jemand Zeit für mich nahm! Nach Monaten, in denen ich von der Menschheit vergessen worden war, schätzte ich jeden Blickkontakt. Ich wusste nicht, wie man als Frau mit Männern umging, ich verhielt mich einfach überbordend fröhlich.
Eines Tages fragte Mark, ob ich Lust hätte, am nächsten Tag mit ihm Mittag zu essen. Ich fasste es nicht, der wollte mit mir essen! Ich war doch ein Nichts, ein
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