Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
hatte ich wieder zwei Kilo runter. Ich kränkelte, mir lief die Nase, und ich hatte Halsschmerzen. Meine Mutter wurde immer nervöser, und mein Verhalten strengte sie an. Am dritten Abend gingen wir nicht weit von unserem Haus im Restaurant essen, wo wir Freunde trafen. Man sagte, ich sähe »gut« aus, aber das konnte nicht stimmen. Ich aß drei Bissen Lamm und etwas Reis. Am ungewöhnlichsten war es, mich wieder in Gesellschaft zu erklären. Ich musste über Zukunftspläne, Berufsvorstellungen und andere wichtige Dinge reden. Diese Sprache hatte ich völlig verlernt. Ich konnte mich nur schwer auf eine Unterhaltung einlassen. Gesellschaft zu haben, empfand ich zwar als etwas Unterhaltsames und Anregendes, doch ich fühlte mich, als stünde ich hinter einer Glasscheibe, und mein Gesprächspartner redete vor sich hin, ohne dass ich ihn hören konnte. Ich sah nur zu, wie er gestikulierte und jäh innehielt, die Augenbrauen hochziehend verstummte und abwartete. Erst dann wurde mir klar, dass er eine Antwort auf seine Frage, die ich nicht gehört hatte, erwartete. Ich gab mir Mühe, meine Zukunftspläne in Worte zu fassen (denn in dieser Gesellschaft ging es immer nur um die Zukunft). Aber wie sollte denn meine Zukunft aussehen? Zurück in die Schule? Kritisch oder neugierig wurde ich beäugt, während ich sprach. Ich konnte die Blicke jener kaum ertragen, die auf der anderen Seite der Glasscheibe standen, in meinem Alter waren und auf die Hotelfachschule in Lausanne gingen oder in England ihren Bachelor machten. Ich hatte mich selbst aus diesem System ausgestoßen, und nun schien es, als gäbe es keine Rückkehr mehr.
An jenem Abend ging ich unruhig, schwach und mit Kopfschmerzen ins Bett. Die Nacht brach pechschwarz über mir zusammen. Ich lag dürr und fröstelnd unter der aufgeplusterten Daunendecke.
Der Dämon war da und redete mir ein, ich würde mich auflösen. Wie von einem lang gekochten Suppenhuhn würde das Fleisch von meinen Knochen fallen. Ich würde es nicht mehr festhalten können.
Wehrlos gegen diese Angstphantasien lag ich in meinem Bett und zählte die Astlöcher in der Vertäfelung der Zimmerdecke. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere. Meine Schultern und Hüftknochen schmerzten. Wie ein Wasserpegel stieg die Angst. Ich konnte niemanden wecken, meine Mutter würde verzweifeln, wenn ich jetzt nicht gesund wurde. Ich begann zu zittern, mir wurde kalt und heiß zugleich, und meine Zähne klapperten. Ich machte das Licht an und versuchte mich mit Atemübungen zu beruhigen. Doch meine Zähne schlugen unaufhörlich aufeinander.
So oft hatte ich in diesem Zimmer gelegen, hatte nicht schlafen können, hatte Effi Briest gelesen, hatte geschrieben, die Astlöcher und die Stunden gezählt. Ich kannte diese Nächte in den Bergen, in denen man keine Ruhe fand.
Innerhalb weniger Minuten war ich nassgeschwitzt. Meine Glieder wurden schwächer, und ich hatte kaum Kraft, die Decke zur Seite zu schlagen und mich hochzuziehen. Schlotternd saß ich auf der Bettkante und beschloss, meinen Vater zu wecken. Ich schlich barfuß im Dunkeln die eiskalten Treppenstufen hinunter.
Meine Eltern riefen sofort eine Ärztin im Dorf an. Nach fünfzehn Minuten saß sie an meinem Bett. Meine Mutter stand in der Tür und sah elend aus. Sie wusste einfach nicht mehr weiter – auch sie hatte keine Kraft mehr. Ich lag im Bett und bangte. Die Ärztin maß Fieber und riet meinen Eltern, mich ins zwanzig Minuten entfernte Samedan auf die Notfallstation zu bringen.
Immer ich. Immer ich!
Mein Vater sagte, er würde mich begleiten, und zog sich an. Ich zog mir trockene Hosen und einen Pullover über. Meine Mutter bestellte das Taxi. Ich weiß nicht, wie spät es war. Ich weiß nur, dass ich froh war wegzukommen.
Wir glitten ohne Gegenverkehr durch die eiskalte, sternenklare Nacht. Wie eine schwarz in sich erstarrte Wassermasse türmten sich die Berge am Nachthimmel auf. Die Mondsichel hing an einem seidenen Faden darüber.
Zwischen mich und meinen Vater klemmte sich der Dämon. Er lachte mich aus: »Siehst du, du verreckst doch. Ich hab es gewusst. Ich mach dich kaputt, ich zertrete dich wie eine Schnecke, breche dich in Stücke. Du willst doch gar nicht mehr leben, gib’s zu!«
Ich zitterte, konnte nicht sprechen.
Als Nächstes lag ich auf der Intensivstation in einem riesigen Bett, umgeben von Monitoren, Schläuchen und Lichtern. Man legte eine Infusion und gab mir Sauerstoff. Die Krankenschwestern waren sehr
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