Fraeulein Jensen und die Liebe
»Der Pullover in 36 geht noch nicht einmal über meinen Oberarm, haben Sie den auch in 40?« zu sagen. Schuhe sind gnädig, Schuhe verzeihen einem drei Kilo zu viel, Schuhe passen immer. Neulich habe ich gelesen, dass Paris Hilton die Schuhgröße 43 hat. Diese Nachricht verschaffte mir ein einwöchiges Stimmungshoch. Schuhgrößen kann man sich nicht erkaufen. Was würde sie bloß für meine makellose 38 geben? Tja, Frau Hilton, so einfach ist das nicht. Entweder man hat’s oder man hat’s nicht.
»Schuhe? Ich soll einen Schuh kennenlernen?«
»Ich geb dir einen Tipp.« Pia reißt den Mund auf wie ein Krokodil und streckt mir ihre Zähne entgegen. Hinten links an den Backenzähnen hängen noch die Überreste unserer letzten Chips-Tüte. Will sie mir auf so subtile Weise klarmachen, dass ich den Produzenten unserer Lieblings-Chipssorte kennenlernen soll? Das wäre sogar mir zu weit hergeholt. Aber was will sie mir damit bloß sagen? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals in einen Zahnarzt verliebt gewesen zu sein.
»Mein Gott, du bist aber auch schwer von Begriff. Letzter Tipp: Was singst du immer unter der Dusche?«
Natürlich, das ist es. Jeden Morgen singe ich unter der Dusche die Arie »Draußen ist Freiheit« aus dem Musical »Tanz der Vampire«. Ich muss das tun. Das ist eine Art Zwangshandlung. Sollte ich irgendwann mal in psychologische Behandlung kommen und der Therapeut mich am Ende einer Sitzung mit ernster Miene fragen: »Gibt es noch etwas, das Sie mir jetzt anvertrauen möchten?«, würde ich mit ebensolch ernster Miene herausbringen: »Ja, ich muss jeden Tag ›Draußen ist Freiheit‹ singen.« Steigerung dieser Zwangshandlung: Ich muss währenddessen ein bestimmtes Ritual einhalten. Bei der ersten Strophe seife ich mich ein, beim darauffolgenden Refrain sind die Haare dran, bei der zweiten Strophe dusche ich mich ab und beim zweiten und letzten Refrain singe ich noch einmal aus ganzem Herzen (ich muss schließlich einen Chor imitieren, der im Original an dieser Stelle einsetzt) und trockne mich währenddessen ab. Wenn ich dieses Ritual nicht einhalte, kann ich mich eigentlich gleich wieder ins Bett legen, da der Tag sicher in die Hose geht.
Einmal klingelte mein Handy während des Duschens derart penetrant, dass ich die zweite Strophe zweite Strophe sein ließ und nackt und nass das Handy suchte. Jens hatte mich gerade sitzengelassen, und ich war mir sicher, dass er gerade jetzt um Verzeihung bitten wollte. Ich rannte also gewissermaßen um mein Liebesleben. Unterdrückte Nummer. Aha. Jens. Ich hob ab, und eine Mitarbeiterin der Telekom sagte mir, dass sie meinen Anschluss wegen Wartungsarbeiten für drei Tage kappen müssen. Zehn Minuten später klingelte der Nachbar über mir und informierte mich hektisch über einen Wasserschaden bei ihm im Klo, der in jedem Moment meine Küche erreichen müsste. Und nachmittags bekam ich zur Krönung noch eine E-Mail von Jens. Er wollte mir seine neue Adresse durchgeben. Er war wieder bei Franziska von der Provinzial eingezogen. Und wenn ich wollte, könnte ich zum gemeinsamen Spargelessen vorbeikommen. Wortlaut Jens: »Wir können doch wie erwachsene Menschen mit unserer Trennung umgehen. Ich würde mich freuen, wenn Du zu unserem Essen am 18. Mai kommen würdest. Franzi freut sich auch, dich besser kennenzulernen.«
Ich bin mir sicher, dass der Tag ganz anders verlaufen wäre, wenn ich zumindest noch die Strophe »Es gibt keine Mauer, die uns je trennt / keine Grenze, die wir nicht überwinden« zu Ende gesungen hätte. Wahrscheinlich hätte Jens wirklich um Verzeihung gebeten, wir wären jetzt wieder glücklich vereint, und ich wäre diejenige, die Einladungen zum Spargelessen an Freunde verschicken würde. Fest steht: Ich werde mich auch im Altenheim von einem Zivi ins Badezimmer schieben lassen, um meine Arie zu singen. Ob so etwas schwerer zu behandeln ist als ein Kontroll-oder Waschzwang? Egal. Pia hat damit auf jeden Fall genau ins Schwarze getroffen.
Ich liebe das Musical »Tanz der Vampire« und vor allem den Obervampir. Er heißt Graf von Krolock, wohnt in einem furchterregenden Schloss in Transsilvanien und verliebt sich in die schöne Sarah – eine »Weltliche« aus Fleisch und Blut. Er lädt sie zu einem Ball ein, beißt sie dann dramatisch in den Hals und singt währenddessen: »Du bist zum Leben erwacht, die Ewigkeit beginnt heute Na-ha-hacht.«
Ich habe das Musical inzwischen schon zwölf Mal in ganz Deutschland
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