Fraeulein Jensen und die Liebe
ich jetzt gar nicht wach sein. Eigentlich müsste ich erst vor ein paar Stunden sternhagelvoll ins Bett gefallen sein. Rocko und ich hätten mit seinen Kumpels die Nacht durchgemacht und um elf Uhr morgens hätte ich Pia eine SMS geschrieben: »Bin gerade erst ins Bett, Rocko ist ein Traum. Nenn mich Rockstar-Babe.« Am nächsten Tag (also heute!) hätte ich den ganzen Tag ein viel zu großes Männerhemd getragen, wäre mit verwuschelten (aber verdammt sexy aussehenden) Haaren durch die Wohnung geschlurft und hätte ein erotisches, heiseres »Hallo?« gehaucht, als das Telefon klingelte.
Pia: »Erzähl, wie war’s?«
Ich: »Anstrengend. Ich glaube, ich muss mich an die Welt eines Rockstars erst gewöhnen. Aber es war fantastisch. Einfach fantastisch. Können wir nachher noch einmal telefonieren? Muss erst einmal eine Aspirin einwerfen, habe einen Rausch.«
Pia: »Liebesrausch?«
Ich: »Ja. Auch einen Liebesrausch.«
Dann hätte ich erschöpft aufgelegt und wäre wieder ins Bett gekrochen.
Aber nein. Ich habe mehr als neuneinhalb (!) Stunden geschlafen, sehe wie das blühende Leben aus, bin topfit und könnte Bäume ausreißen. Topfit! Ich will nicht topfit sein. Ich will Augenringe haben, kotzend über einer Kloschüssel hängen und fertig aussehen. Ist das denn zu viel verlangt?
Ein Klingeln an der Wohnungstür reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Das muss Pia sein. Als ich sie gestern Abend mit den Worten »Rocko will mich betrügen« heulend anrief, hatte sie sich sofort zu einem Liebeskummerbesuch angekündigt. Sie sagte auch noch irgendwas von einer Aufmunterung, die sie mitbringen wollte. Ganz ehrlich? Ich wüsste nicht, was das sein sollte. Wenn es nicht George Clooney ist, der nackig aus einer Torte springt, heitert mich heute überhaupt nichts mehr auf.
Ich öffne die Tür. Wie toll wäre es jetzt bloß, wenn ich in einem Männerhemd und verwuschelten Haaren ... Halt, nicht reinsteigern. Was nicht ist, ist eben nicht.
»Gut siehst du aus«, sagt Pia und umarmt mich.
»Genau das ist ja das Problem«, murmle ich.
Pia bugsiert mich in die Küche. »Hier ist deine Überraschung.« Sie zeigt auf ihre kleine Handtasche. Doch kein George Clooney also.
»Was ist es denn?«, frage ich lustlos.
»Tattarata«, singt Pia, öffnet die Tasche und zieht eine DVD heraus. »Wollte ich dir eigentlich zum Geburtstag schenken, aber ich glaube, du kannst jetzt eine Aufheiterung gebrauchen.«
Sie drückt mir die DVD in die Hand: »Verbotene Liebe – Die Jubiläums DVD«.
Was würde ich bloß ohne Pia tun? Wenn es etwas gibt, was mir jetzt helfen kann, ist es die »Verbotene Liebe«. Eigentlich wollte ich dieses Kapitel meines Lebens eher für mich behalten. Aber was soll’s. Jetzt ist eh alles egal.
Es folgt: das Geständnis.
Ich sehe jeden Tag um 18 Uhr »Verbotene Liebe«. Und das nun schon seit, na ja, irgendwann muss es ja raus: dreizehn Jahren. Ich bin seit der ersten Folge dabei, kann die ersten Dialoge von Jan und Julia im Schlaf mitsprechen, und wenn mich jemand auf den Tod von Henning in Folge 1860 anspricht, läuft es mir immer noch kalt den Rücken runter. Unter dem Pseudonym »Hannahvl_14« (ich habe mich nur unwesentlich jünger gemacht, um mich von »Jana_1989« und »vlfan13« nicht sonderlich zu unterscheiden) bin ich Mitglied in einem Fanforum im Internet und nehme zwischen 18 Uhr und 18.25 Uhr prinzipiell das Telefon nicht ab – auch wenn ich wüsste, dass Pia dran ist, um mir von ihrem neuen Großauftrag in Dubai zu erzählen. Zum Glück hat sie Verständnis dafür. Denn, das ist ausnahmsweise mal eine Gemeinsamkeit zwischen uns: Im VerboteneLiebe-Fan-Dasein steht sie mir in nichts nach.
Fassen wir zusammen: Ja, ich bin fast dreißig und immer noch hysterischer Fan einer deutschen Seifenoper im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre: Seit Folge 3056 bin ich auch noch ernsthaft in einen Darsteller verliebt: Sebastian Graf von Lahnstein. Er sieht gut aus, ist sensibel und herzzerreißend romantisch.
Kurze Zusammenfassung der Handlung (natürlich muss ich die Geschichte auf das Wesentliche herunterbrechen, in Wirklichkeit ist sie vielschichtiger und komplexer, aber das würde hier den Rahmen sprengen).
Sebastian von Lahnstein kippt Lydia Brandner (ein Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt) aus Versehen Kaffee über die Bluse. Sie will ihn gerade auf übelste Weise beschimpfen, als sie hochsieht und in seine Augen blickt. Ein paar Folgen
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