Fraeulein Jensen und die Liebe
aber reichte Willi nicht mehr. Meine Hormone machten sich plötzlich bemerkbar und trieben mich direktemang in die Arme von Winnetou. Er spiegelte meine zerrissene Teenie-Seele wider. Er war stark und männlich und – sehr wichtig zu der Zeit – mochte auch noch Pferde. Doch irgendwann reichte auch Winnetou nicht mehr. Die Hormone spielten endgültig verrückt und Winnetou wurde abgelöst. Von Tim Lobinger, dem charismatischsten Stabhochspringer aller Zeiten.
1990 sprang er – man verzeihe mir dieses Wortspiel, aber es ist die Wahrheit – mit einem großen Satz direkt in mein Herz.
Mit meinen Eltern besuchte ich damals einen Leichtathletikwettkampf in Lübeck. Es war mein Vater, der unbedingt zu diesem Wettkampf fahren wollte. (Er redet sich bis heute ein, dass er ein großer Leichtathlet hätte werden können, wenn er nicht irgendwann über Nacht einen Bierbauch bekommen hätte.) Meine Mutter köderte er damit, dass sie im Anschluss an den Wettkampf im Niederegger-Café so viel Marzipan-Nuss-Torte essen durfte, wie sie wollte, und die zehnjährige Tochter (mich!) kriegte er rum, als er ihr erzählte, dass Lübeck eine C&A-Filiale besitzt. Das saß.
Während ich auf den Sportplatz starrte und mich schon freute, dass ich bald meine Freundinnen mit neuen Klamotten aus der Großstadt neidisch machen konnte, sah ich plötzlich ihn: Tim Lobinger. Er muss damals gerade 20 gewesen sein. Er war sehr groß, sehr stark, sehr lustig (winkte einmal lachend ins Publikum, was ich unwahrscheinlich selbstbewusst fand) und vor allem: Er hatte lange Haare. Mein Gott, ich liebte damals lange Haare bei Jungs! (Die Weichen für mein Beuteschema wurden quasi schon bei Winnetou gestellt.)
Ich war damit in meiner Klasse die absolute Ausnahme. Denn streng genommen gab es damals nur zwei Männer, auf die man »stehen« konnte. Entweder Michael Jackson oder David Hasselhoff. Beide überzeugten mich nicht wirklich. Der eine hatte nur so einen komischen Affen und der andere ein komisches Auto. Sollten sich meine Freundinnen doch um die beiden streiten, ich hatte jetzt einen anderen, ganz für mich allein: Tim Lobinger.
Ich tapezierte mein Zimmer mit Fotos von ihm, verfolgte fortan jeden seiner Wettkämpfe (protokollierte die Ergebnisse in Tabellen) und führte Strichlisten über den Zustand seiner Haare: Wie oft trug er sie offen, wann hatte er einen Zopf und wann ein Stirnband. Neulich habe ich mein gesamtes Lobinger-Werk, so möchte ich es mal bezeichnen, zufällig bei meinen Eltern in einer Schublade im Wohnzimmer gefunden. Vielleicht sollte ich die Daten Marianne Birthler von der Stasi-Behörde übergeben. Ich finde, Tim Lobinger hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass er jahrelang beschattet wurde.
»Über mich wurde eine Akte geführt?«, wird er entsetzt fragen, wenn alles ans Licht kommt.
»Ja, unser inoffizieller Mitarbeiter war ein Teenie in Nordfriesland.«
Auf jeden Fall müssen die Akten verschwunden sein, wenn Tim und ich tatsächlich zusammenkommen sollten. Ich sehe schon, wie ich ihn mit nach Klixbüll nehme, damit er meine Eltern kennenlernt. Meine Mutter wird ihn bitten, für das gemeinsame Kaffeetrinken Servietten aus dem Wohnzimmerschrank zu holen. Er wird die Schublade aufmachen und meine aufwendig recherchierte Spitzelarbeit finden. Aber gut, das ist sicher das geringste Problem. Bis dahin können die Akten vernichtet werden.
Zurück zu Tim. Zum sportlichen Tim. Und zur unsportlichen Hannah. Es ist sicher nicht übertrieben, dass unsere sportlichen Karrieren diametral auseinander gingen. Tim wurde sportlicher, Hannah wurde unsportlicher.
Wenn im Schulsport Teams ausgewählt wurden, war ich immer eine der Letzten, die aufgerufen wurden. Bei Bundesjugendspielen sahnte ich jedes Mal zuverlässig eine Teilnahmeurkunde ab (die unterste Stufe also!), und mein sportliches Highlight hatte ich, als ich mich ambitioniert beim Handballunterricht unseres Sportvereins anmeldete. Pia hatte gehört, dass der Lehrer eine ziemliche Granate sein sollte. Vor Ort betrachtet, stellte sich heraus, dass er es nicht war. Deswegen meldete ich mich nach zwei Wochen mit der Begründung ab, dass ich das Gefühl hätte, meine Stärken würden sich in dieser Gruppe nicht weiter entfalten können.
Tim entwickelte sich dagegen – nun, nennen wir es: anders. 1997 übersprang er als erster Deutscher die sechs Meter, damals eine Sensation. Zeitgleich sorgte auch ich an meiner Schule für eine Sensation. Mithilfe einer großangelegten
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