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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Huerlimann
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Bescheiden nannte ich ein paar Stichworte: Vernunft, Vernunftphilosophie, Moral, Sitte, Subjekt.
    Der Onkel hob anerkennend sein Glas. Dann meinte er, sich selber, nämlich sein eigenes, das eigene empirische Subjekt, habe Kant niemals zu berühren gewagt, nicht einmal beim An-oder Ausziehen, das habe er Lampe überlassen, seinem Diener -der mußte ihn morgens einkleiden, abends ausziehen, wie eine Mutter ihr Kind, von den Kniestrümpfen bis zur Perücke. Aber noch rigoroser als die Sittlichkeit, fuhr der Onkel fort, habe der Vernunftphilosoph die Pünktlichkeit betrieben, davon sei er förmlich besessen gewesen, was schließlich dazu geführt habe, daß ausgerechnet Kant, die verstaubteste aller Geistesperücken des gesamten Bestandes, den (sehr leise:) Strumpfgürtel erfunden habe. Ob ich wüßte, was das sei;
    Ja, hätte ich beinah gesagt, von Mama, aber ich hielt es für klüger, höchstens die Braue ein wenig zu heben, natürlich die linke, man wußte ja nie, wann die Stark mit ihrem Strickzeug in die Höhle huschte, um klickend weiterzustricken.
    Immanuel Kant, habe ich an diesem Abend vom Onkel erfahren, machte tagtäglich einen Spaziergang, tagtäglich den gleichen, stets im gleichen Tempo, stets zur gleichen Zeit, so daß halb Königsberg nach dem pünktlich vorbeispazierenden Vernunftphilosophen seine Uhr zu richten pflegte. Passierte er den Markt, war es Viertel nach drei, bog er in die Lutherstraße ein, war es sieben Minuten vor halb vier, keine Sekunde später, keine früher. Einige Jahre ging alles gut kam Kant um die Ecke, zückten die Königsberger ihre Taschenuhr und brachten die Zeiger auf den richtigen Stand. Aber sei es, daß die Kniestrümpfe vom vielen Waschen lascher geworden waren, sei es, daß Lampe, der ihn einkleidende Diener, in seinem Diensteifer nachgelassen hatte -eines Tages begannen die Strümpfe zu rutschen, nach unten rutschten sie, und wollte der Vernunftphilosoph verhindern, ausgerechnet von den eigenen Kniestrümpfen bloßgestellt zu werden, mußte er alle paar Schritte anhalten, mußte sich bücken und die Kniestrümpfe bis zu den Hosenbeinbünden hochziehen. Die Folge? In ganz Königsberg geriet die Zeit durcheinander, und sogar die Kirchen, deren Geläute auf den Gang des Philosophen abgestimmt war, bimmelten in verwirrten Abständen hintereinanderher. Aber Kant war Philosoph, Vernunftphilosoph, er dachte nach, und schließlich hat er das Problem gelöst. Ein Hüftgürtel mit Bändeln sollte ihm die Kniestrümpfe festhalten. Gedacht, getan. Was der Philosoph ertüftelt hatte, führte sein Diener aus, und siehe da: Es war ein Volltreffer. Das Ding erfüllte seinen Zweck. Fortan mußte Lampe jeden Morgen das feinseidige Gürtelchen um die Kantschen Hüften legen und die Kniestrümpfe an dessen Bändeln festschnallen. Alle waren zufrieden.
    Lampe, eine eher schlichte Variante, durfte sich für seine Nähkunst loben, der Vernunftphilosoph kam störungsfrei über die Runden, und in ganz Königsberg hat die Zeit wieder gestimmt.
    So weit, so gut. Aber was sollte ich aus dieser Adnote lernen; Neigungen hintanstellen, pflichtgemäßes Pantoffelverteilen á la Kant; Oder hatte mich der Onkel zu trösten versucht; Wollte er mir sagen, sogar Kant, der kommodenfüllende Vernunftphilosoph, habe sich mit Kniestrumpfproblemen herumschlagen müssen; Ratlos schlich ich in meine Kammer. Ich hatte die Liebe des Fräuleins zum zweiten Mal verloren, und wollte ich sie zurückgewinnen, mußte ich einen Weg einschlagen, den sie mir selber nahegelegt hatte: Ich mußte meine Sünden bekennen, vor Gott und dem Priester. Doch wollte ich diesmal nicht nur behaupten, ich hätte gebeichtet, ich wollte es tatsächlich tun, mit allem, was dazugehört, Gewissenserforschung, Segen, Strafe. Es wurde höchste Zeit. Ich hielt das Klicken nicht mehr aus –

18
    eilte in die Kathedrale, stürzte mich in die Bank, und diesmal, ich wiederhole es, war ich wirklich entschlossen, alle Sünden zu gestehen: den Blick unter die Linzerin, die kleinen Lügen, das Heimweh und sogar meinen Zweifel an den Plänen Gottes und meiner Eltern. Aber so intensiv ich mich über den Beichtspiegel beugte -der Spiegel blieb leer. Ich erkannte mich nicht. War es denn eine Sünde, den Wohlgeruch der Frauen einzuatmen; War es eine Sünde, hie und da einen scheuen Blick unter ihre Röcke zu riskieren;
    Und was bittesehr sollte ich bekennen, etwa eine »unkeusche Handlung«; War Riechen eine Handlung? Wer atmet, riecht, eine Sünde war das

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