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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Huerlimann
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seiner eigentlichen Tätigkeit, dem Lesen. Unter den Ikonen flackerten Tag und Nacht die vielen Flämmchen, an den Wänden hingen Teppiche, die Fenster blieben verhängt, und da das rötlichgoldene Zwielicht von heißem Wachs, Weihrauch, Parfüm und Rasierwasser süß und schwer gesättigt war, hätte man meinen können, der dicke, die Schritte schluckende Perser sei ein fliegender Teppich, der uns im Hui in den Orient versetzt habe. Vom Fräulein war nichts mehr zu sehen. Drüben in der Küche erstarrten die Geräusche. Ad lectionem, sagte der Onkel.
    Er hatte sich wie ein fetter Scheich auf den Diwan gebettet, ich lag in einem Lehnstuhl, nun schloffen wir beide in die Seidenhandschuhe und öffneten unsere Bücher. Er beschäftigte sich seit einiger Zeit mit einem Wüstenvater, der nur von Skorpionen und der Liebe Gottes lebte und mehr und mehr dem Wahnsinn verfiel. Aber im Wahnsinn war der Wüstenvater zur Gewißheit gelangt, er habe mitten im Sandozean einen Palast vor sich, von hohen Mauern umschlossen, voller Blüten und Blumen, sanft plätschert der Brunnen, lau rieseln die Winde, und wenn die Sonne hinter dem Horizont verglüht sein würde, stünden über den Mauerzinnen des geheimnisvollen Gartens die Palmen wie schwarze Sensenbündel in die Nacht hinaus. Hörst du mir überhaupt zu?
    Selbstverständlich, Onkel. Das ist eine Fata Morgana.
    Richtig, bemerkte er, das ist eine Fata Morgana. Der arme Wüstenvater betritt ein himmlisches Jerusalem, das sein wahnkrankes Hirn in den Sandozean hinausgewunden hat. Gestattest du, daß ich
    ihn begleite?
    Ja, Onkel, natürlich.
    Er zückte die tellergroße Lupe, schob die Brille in die Stirn, tauchte ab.
    Ich hatte ein Buch in den Händen, auf das ich seit Tagen gewartet hatte, aber über den Titel -Aufstieg und Rückgang der Schweizer Textilindustrie -kam ich nicht hinaus. Ich lauschte in die Stille. Ich fürchtete mich vor dem Fräulein. Der Onkel hatte sie abgeschmettert, aber ich wußte: Sie nahm mein Seelenheil, genauer: den Katechismus, zu ernst, um mir den Blick unter das Linzer Fleischgebirge
    verzeihen zu können. Da kommt noch was, dachte ich.
    Es kam tatsächlich, schon am andern Morgen, beim Frühstück.
    Klick, machte sie, klickidi-klick!
    Sie strickte!
    Ja, sie strickte, die Stark, Socken strickte sie, schwarzwollene Kniesocken, wie ich sie für die Klosterschule brauchen würde, passend zur Kutte, und ich hätte ein Stein sein müssen, um nicht zu verstehen, was diese Strickerei zu bedeuten hatte: Mach dich auf die Socken, sagten ihre Nadeln, hau ab, du sündiger Pantoffel, geh in deine Klosterschule, dort werden sie dir die Flausen schon austreiben!
    Klick, klickidi-klick!
    Strickend machte sie ihre Rundgänge, strickend stand sie als Aufseherin der Aufseher im Saal, und am nächsten Abend, als wir wieder in der Plüschhöhle lagen, saß neben dem Samowar das Fräulein und konzentrierte sich auf ihre Handarbeit, als gebe es im gesamten Weltraum nur diese Nadeln, diese Finger, diese schwarze, über die Nadelspitze schlüpfende Schlaufe, klickidi-klick, klik-kidi-klick, klickidi-klick zerklickte sie mit dicken Wollnadeln die Stille, und wiewohl ich nicht, wie der arme Wüstenvater, zum Wahnsinn neige, hatte ich schließlich doch das Gefühl, von ihren Nadelstichen verletzt zu werden. Warum ließ der Onkel das geschehen? Warum warf er sie nicht hinaus? Der Grund lag auf der Hand. Die Hilfsbibliothekare hatten recht -sogar Katz, der ehrwürdige Kapitän der Bücherarche, hatte Schiß vor der Stark.
    Am andern Morgen strickte sie weiter, klickidi-klick, klickidi-klick, klickidi-klick, und jedesmal, wenn sie ein Paar dieser verdammten Kniestrümpfe fertig hatte, wurden sie in einem Koffer, den sie in meiner Kammer aufgeklappt hatte, verstaut. Die Kofferlade wurde schwarz und schwärzer. Die Klosterschule kam nah und näher. Auf leisen Socken, hätte der Onkel wohl gesagt, schlich sich die Zukunft in meine Kammer, klickidi-klick, klickidi-klick, klickidi-klick…

17
    Das giftige Genadel mußte auch den Onkel nerven. Aber er sagte nicht: Liebe, lassen Sie das -dazu war er zu feig oder die Stark zu stark. Er ließ sie stricken, und sie, die niedere Stirn in Falten gelegt, betrieb mit spitzen Nadeln meine Bestrafung. Eines Abends fragte er, ob ich mich an seine Adnoten zu Kant erinnere, ich nickte, schließlich hatte ich inzwischen nachgeschaut und festgestellt, daß Immanuel Kant, der Vernunftphilosoph aus Königsberg, im Katalogsaal ganze Kommoden füllte.

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