Fraeulein Stark
zur Seite treten, und wehe dem Waisenkind, das es unterlassen hatte, einen Vorübergehenden mit tief gezogener Mütze zu grüßen! Es wurde in den Arrest geworfen, in ein schauerliches Verlies, wo knöcheltief das Wasser stand. Leben; Das schon, ja, aber es war ein Leben in der Hölle.
Die Ebene war von Sternenlicht überglitzert, fern bellten Hunde, eine Kette von Zurufen, allmählich sich verlierend, und wieder wurde es still. Als es zu dämmern begann, stand Joseph Katz in Uznach vor dem Pfarrer. Er zog die Mütze, senkte den Schädel und bat darum, zum Vormund seiner unmündigen Geschwister berufen zu werden.
Ich kann viel für dich tun, sagte der Pfarrer, aber alles schön der Reihe nach, gelt, Joseph Katz?
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Im Winter war der Boden wie Eisen, der Sumpf wie Stein, Joseph Katz jedoch, zum Briefträger avanciert, hielt sich auch in dieser Jahreszeit, da man kreuz und quer über die Ebene ging, peinlich genau an die Sommerwege mit ihren Dämmen und den Läufern aus Holzprügeln. Das sah an einem heiterblauen Januartag lächerlich aus, versteht sich, die Kinder rannten im Hui über die gefrorene Fläche, während der junge Briefträger, der zudem seine Tasche zu schleppen hatte, in gezirkelten Umwegen eine unnötig lange Strecke abschritt. Er sei verrückt, meinten sie, halt ein Fremder, kein Hiesiger, doch schon bald begannen sie zu merken, daß sich die Gewohnheit des Briefträgers, stets denselben Weg zu gehen, segensreich auswirkte. Wenn sich alle andern im Nebel verliefen oder vor lauter Angst, sie könnten auf eine tauende Scholle geraten, dringende Gänge unterlassen mußten, zog Joseph Katz mit präziser Sicherheit durch die milchige Brühe. Immer hatte er festen Boden unter den Füßen. Er wußte, wo es langging. Dank ihm kamen die Briefe auch an Nebeltagen in die Häuser, und selbstverständlich hatte der Postler nichts dagegen, wenn man ihn hin und wieder bat, neben seiner Botentätigkeit das eine oder andere Geschäft zu erledigen. Mal zog er eine kranke Kuh zum Schlachthaus, mal brachte er eine Schar Kinder zur Schule, und eines Tages gab ihm eine schöne Witwe ihr Gebiß mit, damit er es in Uznach zur Reparatur abliefere. Drei Tage später kam Katz mit den geflickten Zähnen zurück, die Witwe setzte sie ein und sagte mit einem blitzenden Lächeln: Küß mich, Katz.
Am anderen Tag hatte er einen Brief in der Tasche, worin die Witwe, die offenbar über gewisse Verbindungen verfügte, die zuständige Behörde darauf aufmerksam machte, daß man dem Katz Joseph versprochen habe, er würde zum Vormund seiner Geschwister berufen. Der Brief löste einiges aus. Von den sechs Katzen, erklärte ihm der Waisenvater, könne er deren vier gleich mitnehmen. Nur vier; Katz erschrak. Ich will alle sechs, sagte er.
Nun, meinte der Waisenvater, dafür sei die Kirche zuständig, aber nirgendwo, weder im Pfarrhaus noch im nahen Kloster Wurmsbach, schien man von den Verschollenen etwas zu wissen. Um sie zu finden, stieg der junge Katz noch ein paar Mal zur Witwe ins Bett, steckte seine Zunge zwischen die falschen Zähne, küßte und liebte sie, aber wohin diese auch schrieb, keine Gemeindekanzlei konnte weiterhelfen, zwei seiner sechs Geschwister blieben verschwunden. Er gab nicht auf. Er fragte da und fragte dort, und vermutlich hat Joseph Katz, mein Großvater, seine Suche nach diesen zwei mehr und mehr sich verflüchtigenden, ihm schließlich unbekannten, ja völlig fremden Wesen bis zu seinem Tod nicht aufgegeben.
Bevor der nächste Sommer die Mückenschwärme brachte, konnte der Vormund mit seinen vier Mündeln die Ebene verlassen. In Kaltbrunn, einem Dorf am Rickenpaß, hatten sie ihn trotz seiner Jugend -Katz war noch keine siebzehn Jahre alt -zum Posthalter gewählt. Er selbst hat später den schriftlichen Verdacht geäußert, die in der Ebene hätten ihn weghaben wollen, die Fragerei nach seinen Brüdern sei ihnen mehr und mehr auf die Nerven gegangen. Wie auch immer, nun ging die Reise weiter, wieder packten die Katzen ihren Hausrat auf einen Leiterwagen und zogen rumpelnd los.
In Kaltbrunn kamen sie gut über die Runden. Katz machte die Post, und die Geschwister trugen sie aus. Als die zwei älteren Brüder mit der Schule fertig waren, fanden sie in einer Textilfabrik Arbeit, beim kantonsberühmten Zellweger, und Joseph kündigte seine Posthalterstelle, um in Zürich die Matura nachzuholen und Jura zu studieren. Zwar verspürte er nicht den geringsten Hang zu dieser Wissenschaft, doch wollte er die
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