Fraeulein Stark
führten. Unter ihnen gluckste und gurgelte es, überall Wasser, jedoch zugewachsen, wie verborgen, darüber der Nebel. Es war tatsächlich die Ebene, nach einem Fluß benannt, der Linth. Die Mutter weinte wieder, jetzt vor Glück. Endlich am Ziel. Joseph hatte sich alles größer vorgestellt, weiter, schöner. Denn als der Nebel sich lichtete, sah er: Die Linth-Ebene war nur ein Streifen Sumpfland zwischen zwei parallel liegenden Bergrücken, ohne Himmel, ohne Bäume und mit einem Kanal, der das Land schnurgerade durchschnitt. Aber für die Mutter war es die Ebene, von der ihr Mann immer erzählt hatte, und so beschloß sie, mit ihren Kindern hier zu bleiben.
Sie lebten in der Hütte eines Torfstechers am Fuß eines aufgeschütteten Dammes. Eine Eisenbahngesellschaft hatte versucht, eine Linie zu legen, doch endeten Damm und Projekt, wie hier alles endete - sie versanken im Sumpf. Um sich und die Kinder über Wasser zu halten, ging die Mutter als Näherin auf die Stör. So geschickt wie ihr Mann war sie zwar nicht, jedenfalls nicht mit den Händen, doch hatte sie oft genug und rot vor Wut zuhören müssen, wie er seine Ware an die Kundschaft gebracht hatte. Nun tat sie es ihm nach, und mit dem Mund, das zeigte sich bald, war sie besser als Katz, ihr verstorbener Mann. Diese Ellbogenwärmer, konnte sie keck behaupten, besiegen Gicht und Rheuma, und diese Unterkleider -o lá lá! die wärmen uns nicht nur die Nieren, Monsieur, die geben ihrem Träger eine Kraft zurück, die er seit Jünglingstagen vermißt. Aber Pst, sagen Sie’s nicht weiter!
Im Sommer löste sich der Himmel in Punkte auf, Myriaden von Mücken sirrten, und da sie alles einwolkten, Hütten und Hunde und Menschen, löste sich auch die Ebene auf -die Katz, unterwegs zu einem Kunden, wankte als Säule über den hölzernen Läufer, eine Säule aus sausend brausenden Mücken, und der Klumpen, der ihr hinterherkroch, konnte ihr Ältester sein oder ein Hund, man sah es nicht mehr, hier waren die Plagen ägyptisch, im Sommer kamen die Mücken, im Herbst lag der Nebel, diese faulig stinkende Brühe, aus der immer wieder Rufe zu hören waren, mal nah, mal fern, oft verzweifelt, ein Landstraßenläufer oder gar ein Dammbewohner hatte sich verlaufen und irrte als Schatten durch die weiße, übel verseuchte Nacht. Niemand machte sich auf, um fernen Rufen oder verzweifelten Schreien nachzugehen, es wäre sinnlos gewesen, in der Ebene war der Mensch von seinen Gespenstern nicht zu unterscheiden.
Irgendwann wurden die Rufe leiser, dann erstickten sie, und dann war es still. Kein Vogelrufen mehr, kein Gequake, kein Quarren, nichts. Nur Nebel. Was nicht aufhört, hatte der Vater einmal gesagt, heißt Rußland. Jetzt hatte sich das Wort erfüllt. Die Linth-Ebene war unendlich geworden. Der Nebel hatte sich zwar verzogen, die Berge standen nah, aber trotzdem war die Ebene so weit wie jenes Land, das Sender Katz vor Jahr und Tag verlassen hatte. Joseph Katz, Senders ältester Sohn, stand auf dem Damm, den jüngsten Bruder auf dem Arm, die andern Geschwister um sich herum, und alle sahen stumm und ohne Hoffnung zu, wie Männer mit Stangen den hölzernen Pfaden entlang die Tiefe abstocherten. Hie und da blieben sie stehen, zogen etwas herauf, doch wußten alle, auch die Katzenkinder, daß die Suche vergeblich war. Sie würden die Mutter niemals finden. Die Ebene war einfach zu groß.
20
Es wurde Winter, die Ebene fror zu. Und wieder stand eines Nachts der junge Joseph Katz, der später mein Großvater werden sollte, auf dem Damm. Er war in Decken und Kartoffelsäcke gemummt und sah stumm auf die eishelle Ebene hinaus.
Noch am Tag, da sie aufgehört hatten, mit ihren Stangen nach der Mutter zu stochern, waren Feuerwehrmänner und zwei unentwegt betende Nonnen vor der Hütte erschienen, hatten die Kleinen herausgerufen, hatten sie gepackt, mit Weihwasser abgespritzt und über den Damm davongetragen. Seither lebten seine Geschwister im Waisenhaus, verhungern würden sie nicht, einmal am Tag gab es Brei oder Suppe, dazu einen Mocken Brot, am Sonntag Käse, manchmal sogar Milch, und im Pritschenpferch -Joseph Katz hatte es durch die vergitterten Fenster gesehen -lag für jedes Waisenkind, sauber gefaltet, eine filzartige Decke. Sie hatten zu leben, sie hatten zu essen, doch war es ein Makel, schlimmer als ein Kainsmal, armengenössig zu sein. In Uznach, wo die Kirche stand, durften sie nicht durch die Hauptstraße gehen; kam ihnen auf dem Damm jemand entgegen, mußten sie
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