Frag die Karten
ihr
gehört.«
»Aber sie wohnt in unserem Haus.«
»Eine Wahrsagerin in unserem Haus? Das
ist wirklich eine Neuigkeit.«
»Sie wohnt schon längere Zeit dort.
Wahrscheinlich bist du nicht oft genug zu Hause, um dich um deine Nachbarn
kümmern zu können.« Linneas vorwurfsvoller Blick deutete an, daß ich auch nicht
oft genug zu Hause war, um mich um sie zu kümmern. »Jedenfalls, es ist Mrs.
Neverman aus dem zweiten Stock.«
»Mrs. Neverman ist Madame Anya?« Ich
dachte an die Frau — mit dem harten, verkniffenen Gesicht, die Greg eine alte
Hexe genannt hatte.
»Ja. Warte, ich zeige dir was.« Linnea
kramte in ihrer großen Segeltuchhandtasche.
Ich warf einen Blick auf Clemente. Er
hatte ein amüsiertes Lächeln aufgesetzt.
»Hier ist es!« Linnea zog einen kleinen
Notizzettel heraus. Darauf stand, miserabel gedruckt, mit kleinen Tarotfiguren in
den vier Ecken: Madame Anya — jeder ist willkommen! Ich las es laut vor,
dann blickte ich auf zu Linnea. »Soll das ernst gemeint sein?«
»Lies mal weiter«, erwiderte sie. »Du
wirst es nicht glauben.«
Der Text auf dem Handzettel begann mit
einer Zeile in Großbuchstaben : Kartenlesen — Wahrsagekunst — geistige
Beratung. Ich las weiter, das Kleingedruckte:
»Ein
Besuch wird Sie überzeugen! Madame Anya hat die göttliche Kraft, durch Gebet zu
heilen. Was die Augen sehen, wird das Herz auch glauben. Leiden Sie?
Sind
Sie krank? Brauchen Sie Hilfe? Haben Sie Pech? Bringen Sie noch heute Ihre
Probleme zu Madame Anya, dann sind Sie sie morgen los. Sie berät auch in allen
kleinen Angelegenheiten des Lebens. Aber kein Problem ist so groß, daß sie es
nicht lösen könnte. Sie nennt Freunde und Feinde beim Namen, ohne auch nur ein
Wort zu fragen, und vereint die Getrennten. Madame Anya hat ihr ganzes Leben
dieser Kunst geweiht. Aus allen Himmelsrichtungen kommen sie zu ihr: Männer und
Frauen aller Rassen und Schichten. Sie ist unter Garantie in der Lage, alle
bösen Einflüsse und Pechsträhnen zu durchkreuzen. Sie nimmt Ihnen die Sorgen
und den Kummer und die Dunkelheit und führt Sie auf den Weg zum Erfolg und zum
Glück. Madame Anya lädt Sie zu sich ein. Was die Augen sehen, wird das Herz
auch glauben.«
Das Pamphlet endete mit dem Versprechen
eines Gratis-Talismans für alle Besucher und versicherte, daß jegliche
Auskünfte geheim und vertraulich behandelt würden.
»Großer Gott!« rief ich aus. »Wenn man
bedenkt, was mir da entgangen ist. Aber Molly hat sie offenbar kein Glück
gebracht.«
»Mir auch nicht«, fügte Linnea hinzu.
»Willst du den albernen Talisman sehen?« Sie hielt einen kleinen, blauen
Plastikanhänger an einem Schlüsselring hoch, der einen Vogel darstellte. »Hast
du so was schon gesehen? Kein Wunder, daß sie das gratis hergibt.«
Ich schaute sie neugierig an. »Ja, bist
du denn zu ihr gegangen?«
»Einmal. Molly meinte, daß Madame Anya
mir helfen könnte. Und ich...« Sie sank ein wenig in sich zusammen. »Ich war
bereit, alles zu versuchen.« Doch gleich danach hob sie wieder entschlossen den
Kopf.
Clemente schaute völlig perplex drein.
»Und wie verlief die Sitzung?« fragte
ich.
»Merkwürdig.«
»Hat sie dir irgend etwas Nützliches
sagen können?«
»Nein«, erwiderte Linnea mürrisch. »Aber
wenn es dich so interessiert — warum besuchst du sie nicht selbst?«
»Genau das werde ich tun«, sagte ich
entschieden und stand auf. »Und zwar jetzt gleich.«
Linnea blickte mich überrascht an.
»Meine selbstsichere und so praktisch veranlagte Freundin geht zu einer
Wahrsagerin?«
»Warum nicht?«
Sie lächelte einlenkend. »Warum nicht,
du hast recht. Wir können unsere Auskünfte danach vergleichen.«
Ich dankte Clemente für die Einladung,
und er bat mich, gelegentlich zu einer Führung bei ihm im Blindenzentrum vorbeizuschauen.
An der Bar blieb ich stehen und nahm die weißen Bohnen aus meiner Einkaufstüte.
Die Packung war außen feucht, aber noch fest. Ich steckte sie in meine
Handtasche und bat Stanley, die Flasche Wein aufzubewahren. Linnea bestellte
sich einen zweiten Cocktail; wenn sie nach Hause kam, würde sie vermutlich die
Nacht durchtrinken wollen, und der Wein wäre eine zu große Versuchung für sie
gewesen.
Während ich hinausging, schaute ich
noch einmal zurück zu unserem Tisch. Linnea und Clemente lachten und steckten
die Köpfe zusammen. Es entging mir nicht, daß sie ihr Knie fest gegen seinen
Schenkel preßte.
Kapitel
8
Die schwache orangegelbe Glühbirne auf
dem
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