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Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Treppenabsatz im zweiten Stock tauchte den Korridor in diffuses Halbdunkel.
Ich wartete, während sich aus Mrs. Nevermans Wohnung Schritte näherten. Die Tür
ging eine Handbreit auf, und ich starrte in die Mündung eines langläufigen 22er
Revolvers. Mrs. Nevermans Gesicht lugte über die Sicherheitskette; Neugier und
Angst unterstrichen die Geste des trotzig nach vorn geschobenen Kinns.
    »Ja? Was wollen Sie?« Ihre Stimme klang
rauh und knirschend.
    »Mrs. Neverman? Ich bin Sharon McCone
aus dem Parterre.«
    »Ja — und?«
    »Sind Sie diejenige, die sich als
Madame Anya ausgibt?«
    »Die bin ich.« Stolz richtete sie sich
zu ihrer vollen Größe auf.
    »Meine Freundin, Linnea Carraway, war
bei Ihnen zu einer — einer Konsultation.« Ich kam mir allmählich albern vor,
aber ich machte weiter. »Und ich war mit Molly Antonio befreundet.«
    »Wollen Sie eine Konsultation?« fragte
sie ungeduldig.
    »O ja, das möchte ich.« Ich mußte
versuchen, irgendwie in die Wohnung zu gelangen.
    »Dann kommen Sie bitte herein.«
    Sie hängte die Sperrkette aus, öffnete
und legte den Revolver in eine Schublade und führte mich in einen kleinen,
dunklen Raum, der mit viel zu schweren Möbeln vollgestellt war. Trotz des
schwachen Lichts, das jetzt hier drinnen herrschte, mußte der Raum tagsüber
sonnig sein, weil überall Usambaraveilchen blühten: auf den Tischen, auf
Regalen, sogar auf dem Boden. Ein großes, altmodisches Büffett war mit Pflanzen
und Dutzenden von Kerzen in der Form von Vögeln altarähnlich dekoriert. Ich
starrte fasziniert darauf.
    Mrs. Neverman wandte sich mir zu.
»Bitte setzen Sie sich.«
    Ich schaute mich nach einem Stuhl um,
hörte aber plötzlich ein klatschendes Geräusch und riß den Kopf hoch. Ein
Wirbel schwarzer Federn senkte sich auf mich.
    Ich stieß einen Schrei des Entsetzens
aus und schützte meinen Kopf mit den Armen. »Mein Gott, bringen Sie den Vogel
weg!«
    Mrs. Neverman schaute mich überrascht an,
streckte aber zugleich einen Arm aus. Der Vogel flog zu ihr und ließ sich auf
ihrem Handgelenk nieder. Es war eine Krähe mit mindestens sechzig Zentimetern
Flügelspannweite.
    »Aber ich bitte Sie, meine Liebe«,
beruhigte mich die Wahrsagerin, »lassen Sie sich doch von Hugo keine Angst
einjagen!«
    Mein Herz schlug wie wild, und meine
Handflächen waren schweißnaß, aber ich setzte mich und versuchte, mich zu
beruhigen. »Entschuldigen Sie — es ist eine alberne Phobie. Ich habe Angst vor
Vögeln. Er ist schrecklich groß, nicht wahr?«
    Sie betrachtete wohlwollend den Vogel.
»Eigentlich nicht. Es ist eine Fischkrähe. Sie sind unten am Golf von
Kalifornien heimisch und viel kleiner als die üblichen amerikanischen Krähen.
Dabei kann man sie ebensoleicht zum Sprechen bringen. Ich habe Hugo schon ein
paar Worte beigebracht.« Sie trug den Vogel zu einem reichverzierten Käfig und
schloß dann das Gitter. Jetzt gelang es mir, mich einigermaßen zu entspannen.
    Mrs. Neverman ließ sich mir gegenüber
in einem Lehnsessel nieder. Trotz ihres vorherigen Versuchs, einen gewissen
Stolz an den Tag zu legen, ließ sie jetzt die Schultern unter dem braunen
Samtkleid nach unten sacken. Es schien ihr schmerzlich bewußt zu sein, wie
häßlich sie war, und dieses Wissen forderte einen Zoll, der in jeder ihrer
Bewegungen zu erkennen war.
    Ruhig sagte sie: »Ich habe den Tod
unserer gemeinsamen Freundin vorhergesagt, meine Liebe.«
    »Sie meinen, Sie haben ihr gesagt, daß
sie ermordet werden würde?« Es gelang mir nicht ganz, das Entsetzen aus meiner
Stimme zu bannen.
    »Nein. Ich würde niemals so weit
gehen.«
    »Was haben Sie ihr dann prophezeit?«
    »Das darf ich Ihnen nicht verraten. Der
Inhalt meiner Sitzungen bleibt streng vertraulich. Aber ich habe es genau
gefühlt — eine entsetzliche Aura.«
    Die Wahrsagerin benützte Mollys Tod, um
für sich zu werben! Ich zog die Stirn in Falten.
    »Und worin besteht Ihr Problem, meine
Liebe?« fragte sie.
    »Mein Problem?«
    »Sie sind zu mir gekommen. Also haben
Sie vermutlich ein Problem.«
    »Ich — äh — «
    »Ich verstehe; Sie wollen nicht mit
einer Fremden darüber reden. Das ist ganz natürlich, ja, ganz natürlich. Ich
glaube, ich beginne mit dem üblichen — dann können Sie sich entspannen und
fühlen sich anschließend bestimmt befreiter.«
    Und vielleicht war mir bis dahin ein
Problem eingefallen. »Also gut, Mrs. Neverman.«
    »Sagen Sie Anya zu mir, ich bitte Sie.
Ich nehme an, das ist Ihre erste Sitzung, habe ich

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