Frag die Karten
ein
Schauer über den Rücken. Ich glaubte kein Wort von dem, was sie sagte, aber wie
bei einer Seifenoper im Fernsehen verfügte Anya über die Fähigkeit, mich gegen
meine Absicht in ihren Bann zu ziehen.
Die Wahrsagerin streckte mir die Hand
mit dem Ring entgegen. »Ja, meine Liebe, er ist nicht stark genug, um Sie vor
diesen Schwierigkeiten zu bewahren. Aber ich kann Ihnen helfen, wenn Sie das wollen.«
Ich steckte den Ring wieder an den
Finger. »Und wie?«
»Ich werde für Sie beten. Sehen Sie
diese Kerzen?« Sie wies auf die wächsernen Vögel auf dem Büffett.
»Ja.«
»Das sind besondere Kerzen — reines
Bienenwachs, nur aus natürlichen Bestandteilen. Und sie haben die Form von
Vögeln, damit meine Gebete zu Gott fliegen können. Jeden Abend, um Mitternacht,
eine ganze Woche lang, werde ich eine von diesen Kerzen anzünden und für Sie
beten. Ich garantiere Ihnen, daß die Schwierigkeiten dann weichen werden.«
Eine geschickte Wendung, um auf das
Geschäftliche zu kommen, dachte ich. »Was kosten die Kerzen?«
»Ich bitte Sie, meine Liebe!« Sie
machte eine abschätzige Handbewegung. »Nicht viel — für Sie. Nur fünf Dollar
pro Stück. Das ist Ihnen bestimmt nicht zu viel, wenn es Sie vor dem Bösen
bewahrt.«
Fünfunddreißig Dollar, zusätzlich zu
dem, was die Sitzung kostete. Abgesehen davon konnte ich nicht kontrollieren,
ob sie die wundersamen Kerzen wirklich einsetzte, konnte schließlich nicht
jeden Abend um Mitternacht hierherkommen und beobachten, wie sie sie anzündete.
Wieder warf ich einen Blick auf die
Kerzen und tat so, als sei ich interessiert. »Ich weiß nicht. Ich bekomme erst
am Freitag Geld.«
»Aber Sie werden doch wollen, daß ich
für Sie bete.«
Anya war offenbar nicht bereit, mir bis
Freitag Kredit einzuräumen, nicht einmal dann, wenn das Übel am Horizont
drohte. »Vielleicht werde ich mich dafür entscheiden. Ich lasse es Sie wissen.«
Argwöhnisch lauerte sie: »Aber Sie
haben doch fünf Dollar für diese Sitzung?«
»Natürlich.«
Jetzt streckte sie gierig die Hand nach
dem Geldschein aus, und als sie ihn erhalten hatte, gab sie mir einen Talisman
ähnlich dem, welchen Linnea erhalten hatte. »Ich garantiere Ihnen, meine Liebe,
die Gebete werden Ihnen viel Kummer ersparen. Ich habe auch Ihrer Freundin
vorgeschlagen, für sie zu beten, aber sie meinte, sie würde das Geld lieber in
Alkohol anlegen. Sie war sehr unhöflich.«
»Das tut mir leid. Haben Sie oft Kerzen
für Molly angezündet?«
»Ja, meine Liebe, o ja. Ich habe es mir
auch nach unserer letzten Sitzung vorgenommen, obwohl wenig Hoffnung bestand,
daß ich sie damit retten konnte.«
»Hm. Haben Sie gehört, was mit Gus
passiert ist?«
»Sie meinen abgesehen davon, daß er
Molly verloren hat?«
»Ja.« Und ich berichtete ihr, was mir
Sebastian erzählt hatte.
»Armer, kleiner Kerl.« Anya schüttelte
den Kopf. »Wo wird er jetzt wohnen?«
»Vorübergehend kann er in Mollys
Wohnung bleiben. Aber nach dem nächsten Ersten weiß kein Mensch, was aus ihm
werden soll. Ich habe schon mit Herb Clemente darüber gesprochen — «
»Clemente!« Anyas Augen verengten sich.
»Ja. Er ist der Leiter des
Sunrise-Blindenzentrum.«
»Ich weiß, wer er ist.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
»Er ist doch kein Freund von Ihnen — dieses
Schwein?«
»Ich habe ihn erst heute abend kennengelernt.
Was ist mit ihm?«
»Ich werde Ihnen sagen, was mit ihm los
ist. Schauen Sie sich hier um. Sehen Sie jemanden?« Sie beschrieb eine
Kreisbewegung mit dem Arm.
Ich schaute. »Nur den Vogel.«
»Genau.« Sie nickte nachdrücklich. »Nur
den kleinen Hugo und mich. Jeffrey Neverman ist nicht hier; er war nicht mehr
hier, seit ihn dieses Schwein überredet hat, von zu Hause wegzugehen.«
»Moment mal, Anya. Wer ist Jeffrey? Ihr
Sohn?«
»Mein Sohn?« Ihre Stimme erhob sich um
eine volle Oktave. »Jeffrey Neverman ist mein Mann. Das heißt, er war es, bis
ihn dieser Clemente von mir weggelockt hat.«
Ich erinnerte mich an Clementes
Lastwagenfahrer, der seine schreckliche alte Hexe von Frau verlassen hatte.
Kein Wunder, daß Clemente so wissend lächelte, als Linnea Madame Anya erwähnte.
»Wie ist es Clemente gelungen, ihn von
hier wegzulocken?« fragte ich.
»Durch alle möglichen gemeinen Lügen.
Diesen Schweinehund umgibt eine böse Aura. Wahrscheinlich hat er Jeffrey
überredet, er solle sich an jüngere, hübschere Frauen heranmachen. Nur weil ich
zehn Jahre älter bin als er. Ich finde, das ist kein
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