Frag die Karten
keineswegs wohl,
da ich von starken Schuldgefühlen geplagt wurde.
Linnea hatte sich nicht gerührt,
während ich mich heute morgen hastig ankleidete. Ich wußte, ich hätte sie
wecken müssen, um ihr zu berichten, was mit Molly passiert war. Es wäre besser
gewesen, wenn sie es von mir erfahren hätte als über die Nachrichtensendung im
Fernsehen oder von Tim, dem Hausmeister. Aber ich fühlte mich, besonders nach
einer ziemlich ruhelosen Nacht im Schlafsack auf dem Boden nicht in der Lage,
ihre Hysterie zu ertragen, und ich hatte mich feige davongeschlichen.
Aber war das wirklich der Grund,
weshalb ich mich aus meiner Wohnung gestohlen hatte, ohne auch nur einen
Schluck Kaffee zu trinken? Was hatte es mit dem Stück Vorhangschnur auf sich,
das aus meiner Wohnung zum Tatort gelangt war, dorthin, wo Molly ermordet
worden war? Denn daß es sich um eben dieses Stück Schnur handelte, stand für
mich fest. Wie stellt man seiner besten Freundin die Frage, ob sie vielleicht
zufällig betrunken nach oben gegangen ist und eine alte Frau erdrosselt hat?
Wie um alles in der Welt konnte ich so etwas auch nur denken?
Ich verscheuchte den Gedanken, öffnete
die Tür des Albatroß-Ladens. Mir schlug das Aroma des Kaffees entgegen, den der
Besitzer immer in einer großen Glaskanne warmhielt. Der kleine Laden war leer.
Ich trat ein und war umgeben von der vertrauten Coca-Cola- und Bierreklame mit
der Neonbeleuchtung, dem abgetretenen weißen und grünen Bodenbelag, den verkratzten
Tiefkühlschränken, Regalen mit Kartoffelchips und den ordentlich aufgestapelten
Pyramiden von frischem Obst.
Ein Mann mit säuerlichem
Gesichtsausdruck und pomadeglänzendem schwarzem Haar kam aus dem Lagerraum. Er
wischte sich die Hände an einer langen, weißen Schürze ab und trat auf mich zu.
»Haben Sie schon gehört, Miss McCone?« Seine Worte wurden weniger durch ihren
arabischen Akzent als durch übertriebene Förmlichkeit unterstrichen.
»Sie meinen das mit Molly Antonio? Ja.«
»Eine schreckliche Sache. Eine wirklich
schreckliche Sache.«
Er beugte sich leicht vor, dann
schlüpfte er an mir vorbei und drehte das Schild an der Tür um, so daß von
außen geschlossen zu lesen war. »Ich möchte über so etwas nicht in
Gegenwart meiner Kunden reden. Wollen Sie einen Schluck Kaffee?«
»Das klingt verlockend.«
Er füllte zwei Pappbecher, tippte
gewissenhaft den Preis in die Kasse ein und legte dann Kleingeld aus seiner
eigenen Tasche dafür hinein. Ich saß auf einem hölzernen Hocker vor der Theke,
beobachtete den Lebensmittelhändler und dachte an die Zeit vor fünf Jahren, als
ich Mohammed Makhlouf, oder Mr. Moe, wie man ihn nannte, kennengelernt hatte.
Als ich das erstemal den Laden betreten
hatte, war ich gerade noch Zeuge geworden, wie der Lebensmittelhändler auf einen
jugendlichen Delinquenten zugestürmt war, der ein Bonbon aus dem Glas neben der
Registrierkasse hatte klauen wollen. Der Missetäter hatte nur einen Blick auf
Mr. Moes tiefliegende Augen und auf seine erhobenen Hände geworfen und war
daraufhin unverrichteter Dinge rückwärts zur Tür geschlichen, wo er sich
umdrehte und mit wirbelnden Armen und Beinen davonrannte.
»Wenn man ihnen nur genügend Angst
einjagt, lernen sie es schon«, hatte Mr. Moe gebrummt, den Preis für mein Brot
eingetippt, mir das Wechselgeld herausgegeben und eine Tüte angeboten, was ich
ablehnte. Beim Gehen hatte er mir nachgerufen: »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie
die Bäume retten wollen.«
Obwohl es sich oberflächlich betrachtet
um die wohlmeinende Bemerkung eines Umweltschützers gegenüber einem
Gleichgesinnten handelte, hatte sie — wie zahllose andere, mit denen er mich in
den kommenden Jahren bedachte — einen Unterton von Spott enthalten, was durch
ein dünnes, nie die Augen erreichendes Lächeln unterstrichen wurde. Und im
Laufe der Zeit hatte ich die Erkenntnis gewonnen, daß ich nicht in der Lage
war, den Grund für seinen Spott herauszufinden, wenngleich von einer wachsenden
Neugier erfüllt, die bis zu diesem Tag unverändert geblieben war.
Jetzt reichte mir Mr. Moe den
Kaffeebecher und lehnte sich gegen die Theke, seinen Becher zwischen den
schlanken Händen haltend. Im Laden war es still bis auf das Brummen eines
Ventilators an der Decke. Nach einer Weile fragte der Lebensmittelhändler:
»Waren Sie zu Hause, als man Mrs. Antonio gefunden hat?«
»Ich bin kurz danach heimgekommen. Gus
war völlig hysterisch, also habe ich die Tote identifiziert.«
»Wie kann es die
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