Frag die Toten
Heulkrampf kriegen. Doch vielleicht waren gar keine Bullen da. Wenn sie kamen und niemand war zu Hause, würden sie wegfahren und später wiederkommen. Kirk beschloss, mit dem Jungen in eines der großen Einkaufszentren zu fahren, wo sie etwas essen und er den Müllsack in eine der dortigen Mülltonnen werfen konnte.
Er fuhr rückwärts aus der Parklücke, legte den Vorwärtsgang ein und hätte beinahe einer Frau in einem Lexus-Geländewagen die Vorfahrt genommen, als er sich mit quietschenden Reifen in den fließenden Verkehr einordnete.
Er war etwa einen Kilometer gefahren, als er in den Rückspiegel sah. Ihn interessierte jedoch weniger der Verkehr als der Müllsack.
Nichts zu sehen.
»Herrgott!«, schrie er. »Das gibt’s doch nicht! Das darf doch nicht wahr sein!«
Er fuhr an den Straßenrand und bremste. Sprang aus dem Wagen und warf mit klopfendem Herzen einen Blick auf die Ladefläche.
Der Sack war da. Er war nur nach vorne gerutscht, direkt unter das Heckfenster der Fahrerkabine.
Kirk schloss einen Moment die Augen, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, stieg wieder in den Wagen und fuhr weiter.
[home]
Achtundzwanzig
G ail Beaudry sah Keisha kommen und stieg aus dem Jaguar.
»Was hast du gesehen? Weißt du, wer’s war? Wie ist es passiert?«
Keisha bedeutete ihr, wieder einzusteigen. Sie selbst ging um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Sie zitterte.
»Was ist?«, fragte Gail. »Du siehst schrecklich aus. Hast du etwas gesehen? Ich meine, eine Vision, hast du gesehen, was passiert ist?«
»Bitte, Gail, gib mir eine Minute«, sagte Keisha mit erhobener Hand.
»Natürlich, natürlich, ich verstehe vollkommen. Ich weiß schon, die Dinge, die du da siehst, die kann man ja nicht einfach an- und ausmachen wie eine DVD oder …«
Keisha explodierte. »Sei still! Sei einfach mal eine Minute still.«
Gail prallte zurück. Hätte die Fahrertür noch offen gestanden, sie wäre aus dem Wagen gefallen. Ihr Mund war aufgerissen. So hatte Keisha noch nie mit ihr gesprochen. Prompt brach Gail in Tränen aus.
»Gail«, sagte Keisha, der ihr Ausbruch schon leidtat.
Gail hielt sich eine Hand vor die Augen, die andere richtete sie in einer abwehrenden Bewegung gegen Keisha. Sie schluchzte eine gute halbe Minute, bis Keisha endlich sagte: »Tut mir leid, wirklich. Es war nur … es war so schrecklich da drin.«
Sofort hörte Gail auf zu weinen. »Aber natürlich.
Ich
bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Ich habe dich da hineingeschickt. Das hätte ich nicht tun dürfen. Das war zu viel verlangt. Es tut mir ja so leid.«
»Schon gut«, sagte Keisha. Sie hatte Detective Wedmore bemerkt, die aus der Einfahrt zu Garfields Haus gekommen war und jetzt zu ihnen herübersah.
»Wahrscheinlich habe ich dich traumatisiert«, sagte Gail. »Das war nicht richtig.«
»Ist schon gut. Ich war nur … ich hätte nicht gedacht, dass es mich so mitnehmen würde.«
Womit Keisha nicht gerechnet hatte, war, dass Wedmore das Ganze so schnell durchschauen würde. Alles wegen dieser verfluchten Visitenkarte. Aber da hatte sie ja vorgesorgt, nicht wahr?
»Hast du … hast du etwas gespürt?«
Keisha senkte den Blick und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Eigentlich nicht, Gail.«
»Vielleicht kommt das ja noch.«
Sie sah Gail an, sah die Erwartung in ihren Augen, die
Hoffnung
.
»Kann sein, dass die Polizei der Sache früher auf den Grund kommt als ich«, sagte Keisha.
»Ich traue denen nicht«, sagte Gail. »Ich habe überhaupt kein Vertrauen in die Polizei.«
Wedmore kam auf den Wagen zu.
»Es gibt eine Menge Leute, denen du nicht trauen solltest«, sagte Keisha. »Nicht nur der Polizei.« Sie sah auf ihre Handtasche hinunter, die zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand. »Diese fünftausend Dollar, die du mir gegeben hast, Gail. Ich glaube nicht, dass ich mir die verdient –«
»Diese Ermittlerin kommt her«, unterbrach Gail sie. »Was glaubst du, was die von uns will?«
Keisha wollte gar nicht daran denken. »Keine Ahnung. Aber, Gail, was das Geld angeht, ich –«
»Ich mag sie nicht«, sagte Gail. »Ganz und gar nicht. Natürlich nicht, weil sie schwarz ist. Ich habe nichts gegen Schwarze. Aber hältst du’s nicht auch für möglich, dass sie Weißen gern etwas anhängt, egal, ob sie schuldig sind oder nicht? Um es ihnen heimzuzahlen?«
»Das glaub ich nicht«, sagte Keisha. Sie öffnete ihre Tasche und wollte gerade den Umschlag mit dem Geld herausziehen, da hörte sie,
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