Frag die Toten
dass jemand an Gails Fenster klopfte.
Gail ließ die Scheibe herunter.
»Ja, Detective?«
»Mrs. Beaudry, ich würde Sie gerne sprechen.«
»Dauert das lang?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Ich will Ms. Ceylon nämlich nicht aufhalten. Ich wollte sie gerade nach Hause bringen.«
Wedmore überlegte kurz, dann winkte sie einen der uniformierten Polizisten herbei. Gleich darauf steckte sie den Kopf in das halb geöffnete Fenster und sagte: »Ms. Ceylon, mein Kollege wird Sie nach Hause bringen. Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten.«
»Kein Problem«, sagte Keisha. »Es macht mir nichts aus, auf Gail zu warten.«
Wedmores Stimme duldete keinen Widerspruch. »Nein, wir bringen Sie nach Hause. Mrs. Beaudry?«
Gail seufzte, ließ die Scheibe hochgehen und schaltete den Motor aus. »Wir reden später, ja? Weil … vielleicht weißt du dann ja schon mehr.«
Nein, ich werde nichts wissen,
dachte Keisha.
Ich will das alles vergessen
. Sie wollte der Frau einfach nur ihr Geld zurückgeben und sie nie wiedersehen. Und sie hätte es beinahe geschafft.
Gail stieg aus. Ein Streifenwagen fuhr heran. Wedmore sprach mit dem Fahrer, dann sah sie Keisha an und wartete. Widerstrebend stieg Keisha um. Wedmore hielt ihr die Tür des Polizeiwagens auf und sagte: »Ich komme später bei Ihnen vorbei.«
Keisha spürte die Furcht, die sie wie ein kalter, nasser Schlafsack umhüllte.
Kirks Pick-up stand nicht in der Einfahrt, als die Polizei Keisha zu Hause absetzte. Wut erfasste sie. Er hatte versprochen, hier zu sein, wenn Matthew aus der Schule kam, was in fünf Minuten der Fall sein würde, es sei denn, der Junge ging mit seinem Freund Brendan nach Hause.
Gestern noch hatte sie gedacht, dass es Zeit war, diesen Mann loszuwerden. Und heute hatte sie sich noch enger an Kirk gebunden, indem sie seine Hilfe in Anspruch nahm. Jetzt hatte sie nichts gegen ihn in der Hand. Wie warf man jemanden aus dem Haus, der wusste, dass man einen Mord auf dem Gewissen hatte? Sicher, sie saßen in einem Boot, aber Kirk hatte eine Schwimmweste und sie nicht. Er hatte ihr geholfen, ihre Spuren zu verwischen, hatte Beweismaterial vernichtet. Aber wenn er sie verpfeifen wollte, dann würde er ohne mit der Wimper zu zucken zur Polizei gehen und einen Deal für sich herausschlagen.
Also war er mehr als ein Komplize. Er war eine potenzielle Gefahr. Wie würde er sich bei einer Vernehmung durch Detective Wedmore schlagen? Sie hatte anscheinend eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was in Garfields Haus vorgefallen war. Natürlich war das alles nur Spekulation. Aber was Keisha Wendell Garfield als »Vision« verkauft hatte, war auch nur eine Spekulation gewesen. Und sie war der Wahrheit gefährlich nahe gekommen.
Wie besorgt Keisha auch wegen dem war, was ihr bevorstand – wenn man sie schließlich doch überführte, gab es etwas, das ihr noch viel mehr Sorgen machte.
Was würde aus Matthew werden?
Wenn man sie verhaftete, wenn man sie des Mordes anklagte, wenn es ihr nicht gelang, eine Jury davon zu überzeugen, dass sie in Notwehr gehandelt hatte, wenn sie schließlich hinter Gittern landete, was wurde dann aus ihrem Kleinen?
Auf der einen Seite verfluchte sie ihre Mutter, auf der anderen folgte sie ihren Fußstapfen. Ein Kind großzuziehen, während man mit einem Bein im Gefängnis stand – da musste man doch ständig damit rechnen, dass einem das Ganze eines Tages um die Ohren flog. Doch Keisha hatte ihre Vergehen nie als so schwerwiegend betrachtet wie die ihrer Mutter. Sie hatte keine Leichen verschwinden lassen und Rentenschecks geklaut. Sie zog Leuten das Geld aus der Tasche, aber letzten Endes hatten sie immer die freie Wahl. Den Menschen, die sie über den Tisch zog, musste doch irgendwo klar sein, dass sie betrogen wurden. Sie wussten, was eigentlich gespielt wurde, und ließen es zu.
Dass einmal jemand sterben würde, damit hatte Keisha nie gerechnet.
Was Caroline wohl tun würde? Ihre Cousine in San Francisco? Würde sie Matthew aufnehmen, wenn es hart auf hart kam?
Caroline, die Tochter der Schwester von Keishas Mutter, war eine nette, anständige Frau. Sie lebte von ehrlicher Arbeit. Sie war Empfangsdame im Ritz-Carlton, und ihr Mann Earl war FedEx-Fahrer. Sie hatten drei Kinder. Zwei Mädchen, zwölf und fünfzehn, und einen siebenjährigen Sohn. Anständige, fleißige Menschen.
So anständig, dass sie den Kontakt zu Keisha vermieden. Sie war die Schande der Familie, Tochter der früheren Titelträgerin, eine, die
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