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Frame, Janet

Frame, Janet

Titel: Frame, Janet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenn Eulen schrein
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Weihnachten war eben begraben, das Grab zugeschaufelt, und niemand ging in der Sonne oder im Dunkeln spazieren und entdeckte, dass der Stein fortgewälzt war.
    Das Picknick sollte am Sonntag stattfinden.
    «Vorausgesetzt, das Wetter hält sich, sagte Flora Norris im Gespräch mit der Stationsschwester in dem kleinen, engen Zimmer, das Flora als Büro diente und zu ihrer Wohnung gehörte. Sie wohnte in der Klinik wie eine Patientin. Sie hatte keine andere Wohnung, und außerdem hatte sie hier Patienten zur Verfügung, die ihr Bett machten und ihr Zimmer sauber hielten und ihren Schrank aufräumten und ihr die Mahlzeiten und Zeitungen brachten; und für sie bohnerten; und die Blumen arrangierten, die sie im Vordergarten für sie pflückten; ja, wäre das nicht gewesen, hätte sie selbst im Gefängnis sein können, und steckte im Grunde tatsächlich in einer Art dienstlicher, aufreibender Gefangenschaft, sodass ihr jedes Jahr, wenn ihre vier Wochen Urlaub fällig waren, bange wurde und sie nicht wusste, wohin sie fahren sollte, weil es außer ihrem Gefängnis nichts gab. Und manchmal fragte sie sich – Was ist, wenn ich pensioniert werde? Was dann? Ich habe genügend Geld, sicher, aber ich habe keine Heimat. Oder wenn ich verrückt werde? Das ist schon vorgekommen, aber man bringt sie dann immer in den Norden, aber was ist, wenn mir das passiert?
    Anschließend machte sie, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen und ihre Selbstsicherheit wiederzugewinnen, einen Rundgang durch die Klinik, und die Schwestern hielten ihr die Türen auf und standen vor ihr stramm, und die verschüchterten, verwirrten jungen Ärzte fragten sie um Rat, und die Köchin in der Hauptküche versprach, ihr zum Nachmittagstee ein paar mit Sahne von der Farm gefüllte Törtchen zu machen. Sie besuchte jede Station, und wenn gerade Essenszeit war, schnitt sie mittwochs den Hammelbraten an oder half sonntags die Bratwürstchen verteilen oder sah zu, wie die Cervelatwurst, die es dienstags und freitags gab, mit einer Gabel auf die Teller gelegt wurde. Und abgesehen davon, dass sie nicht in einer von sechs Apfelschimmeln gezogenen Kutsche fuhr und nicht auf einem eigens für sie ausgelegten Samtteppich von Station zu Station schritt und mit liebenswürdigem Handheben der ehrfürchtig wartenden Menge zunickte und lächelte, war sie wie eine Königin; auf diese Weise vergaß sie ihren Kummer und widmete sich in Gedanken dem Kuss vor dreißig Jahren und dem Draht, der sich aus dem Grab ihres Liebsten wand, und lächelte wie welkende Brunnenkresse: um sich dann zusammenzureißen und das Lächeln abzustellen, die verwelkte Blume aufzurichten und den Draht wieder fest zu winden, der unter ihrer Haut saß, die sie jede Nacht mit Delicia Nährcreme für die Frau über dreißig pflegte – wie viel über dreißig, verriet Flora Norris nicht, aber sie lag jede Nacht mit der weißen, öligen Deliciamaske auf dem Gesicht da und mit Augen, die eine halbe Stunde mit warmer, öliger Watte getränkt worden waren, sodass ihr Kissen Flecken bekam und nach Parfum roch; und dort starrte sie aus dem Fenster, das mit Eisen vergittert war, wenn auch nur durch eine erschreckende Illusion des Mondlichts, zur Männerseite des Berghangs hinüber, auf das Schieferdach und den großen, leeren Speisesaal mit den langen, gescheuerten und zerkratzten Tischen und dem Linoleumfußboden, der jeden Tag von einem Patienten mit offen stehendem Idiotenmund, aus dem unaufhörlich Speichel rann, mit der elektrischen Maschine bearbeitet wurde, die ihn kreisend, wimmernd und drohend bohnerte; und sie empörte sich dagegen, die dem Menschen eigene tagtägliche und Jahr um Jahr dauernde Qual des orientierungslosen Wanderns einfach wegzuwischen.
    Zuerst ließ sich das Picknick sehr gut an. Die auserwählten Patienten saßen, geschniegelt und geputzt, wie tote, angezogene Weihnachtspuppen in einem Schaufenster der Welt und warteten darauf, dass jemand sie auswählte und nahm und aufzog, damit sie gingen und sprachen und tanzten und lebendig wurden. Sie hatten Lippenstift aus der Make-up-Schachtel aufgelegt, die auf einem Bord im Untersuchungszimmer neben Urin- und Giftflaschen aufbewahrt wurde, und Krankenblättern und einem verschrumpelten, gepressten Blinddarm, der wie ein Blatt aussah, das man zwischen die Seiten einer Familienbibel oder eines «Trostbüchleins für überschattete Tage» gelegt hatte. Auch Rouge und Puder und Gesichtscreme aus derselben Schachtel hatten sie aufgelegt, weil, wie

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