Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
auf meinen Schultern.«
Er spannte den Unterkiefer an.
»Dann musste ich daran denken, was ich im Laufe der Jahre alles verschrieben und verordnet und vorgeschlagen habe und wie wenige Menschen meinen Rat tatsächlich befolgt haben und geheilt wurden und -« Er warf die Hände hoch. »Es kommt mir so sinnlos vor. Ich will mir nicht weiter die Finger und das Herz blutig arbeiten, wenn ich so wenig damit erreiche.«
»Also geh nach Midian«, sagte ich mit gespielter Heiterkeit. »Mal sehen, wie du dich fühlst, wenn du zurückkommst.«
Er zuckte mit den Achseln.
Ich reichte ihm die Steine zurück und sah zu, wie er sie wieder in seine Schärpe steckte, einen auf jede Seite, damit sie nicht tanzten. »Wann geht ihr los?«
Sein Blick traf auf meinen.
»Nächste Woche. Nach Shavu’ot.«
»Feiern wir mit?«, fragte ich. Bis auf die Vorbereitungen hatte Shana kein Wort darüber verloren.
»Sie gehen dafür in die Stadt Shek’im«, sagte er. »Dort ist ihr Totem. Ich glaube, wir bleiben so lange hier und bewachen die Felder.«
Die Verlegenheit war wieder da.
Ich fühlte mich auf merkwürdige Weise allein gelassen, wie ich so im Schneidersitz im Olivenhain saß. »Wo bist du?«, platzte es aus mir heraus.
Er blinzelte überrascht. »Wie meinst du das?«
»Du. Du bist nicht hier. Bist du schon am Berg Gottes?«
Er schlug die Augen nieder. Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Cheftu, du wirst auf diese Reise gehen. Ihr werdet nächste Woche losziehen. Allmählich beginne ich das zu verstehen und zu glauben. Doch solange du noch hier bist, sei bitte auch wirklich hier.« Ich beugte mich hinüber und drehte sein Gesicht zu mir her. »Erzähl mir, wie aufregend du das findest, erzähl mir, was du zu finden hoffst oder warum du mit willst. Schließ mich nicht aus. Verlass mich nicht schon, bevor du losgehst. Bitte.«
Das Sonnenlicht vergoldete ihn wie mit Speeren, brachte die Lichter in seinem schwarzen Haar zum Funkeln und hob die kleinen Narben auf seiner Haut hervor. »Was wirst du als >un-beschnittener< Ägypter überhaupt mitbekommen?«, fragte ich. »Sie lassen dich bestimmt nicht auf den Berg, sie werden dich nichts berühren und tun lassen, sobald sie dort angekommen sind.« Ich drückte seine Hand, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Sie benützen dich.«
»So wie ich sie benütze«, antwortete er. »B’seder, du willst die Wahrheit hören? Du willst hören, was in meinem Herzen vorgeht?«
»Ja!«, antwortete ich auf Englisch. »Natürlich will ich das! Wie konntest du auch nur daran zweifeln? Ach!«, entfuhr es mir verärgert.
»Chloe, wir leben hier unter einem Volk, dessen Vorväter Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübergesessen haben. Sie haben mit ihm gespeist, sie haben mit ihm gesprochen. Das war keine Gottheit, die so mächtig war, dass man nur auf ihren Hinterkopf blicken durfte. Er war da, in Fleisch und Blut, und hat bei ihnen gesessen. Er war schon vor jeder Inkarnation, von der wir wissen, zum Menschen geworden!«
Seine Augen glühten, er war begeistert, er war schön. Und ich hatte keine Ahnung, wovon er da redete.
»Als MMoshe Gott nach seinem Namen fragte, bekam er ein unergründliches Rätsel zur Antwort. Doch Moshe hatte Gott bereits seinen Namen gegeben, darum stand er in Gottes Macht.«
»Weil er seinen Namen kannte?«
»Namen sind ein mächtiger Zauber, chérie. Wenn man den Namen eines Menschen kennt, weiß man etwas über ihn. Darum hatten zu allen Zeiten viele Menschen, vor allem jene aus Herrscherfamilien, einen geheimen Namen.« Er streichelte mein Gesicht und fuhr dabei mit seinen Fingerrücken über meine Wangenknochen. »Als du mir zum ersten Mal deinen Namen gesagt hast - Chloe -, da wusste ich, dass er die Wahrheit über dich verriet.«
Ich runzelte leicht die Stirn, während der Wind in den Bäumen raschelte und silbrig grüne Blätter auf uns herabregneten. »Wieso das?«
»Im Griechischen, das habe ich dir schon mal erklärt, bedeutet dein Name >Grün< und >Aufblühend<. Mehr noch, er bedeutet auch >Lebendig<, >Wachsend< und >Hoffnungsvoll<.« Er strahlte mich an, mit einem langsam aufleuchtenden Lächeln, das von seinen Augen ausging und dann zu seinem Mund hinunterwanderte. »Für mich bist du genau das. Was auch geschieht, du wächst darüber hinaus. Nie verlierst du die Hoffnung, immer bist du voller Leben.«
Mein Gesicht glühte, und das Herz schlug mir im Hals. Wir sahen einander schweigend und glücklich an. Ich hatte vollkommen
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