Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
vergessen, worüber wir gesprochen hatten. »Küss mich, chérie«, sagte er.
Wir verschmolzen erst unsere Münder im sonnengetupften Schatten, dann unsere Leiber, dann unsere Seelen. Als wir schließlich nebeneinander lagen und zum blauen Himmel aufsahen, sagte er: »Ich bin Gelehrter und außerdem Katholik; deshalb möchte ich mitgehen. Mein Leben würde so viel dadurch gewinnen, dass ich diese Dinge sehe und sie erfahre. Selbst wenn ich den Berg nicht berühre. Ich habe nicht den Wunsch, Gott zu sehen; ich werde ihn ohnehin sehen, wenn ich sterbe.«
»Falls du stirbst«, verbesserte ich.
»Ach, Chloe.«
Er sah mich an und betrachtete seine braune Hand auf meiner weißen Haut.
»Die einzige Unsterblichkeit, die ich mir wünsche, sind unsere Kinder«, flüsterte er. »Für mich selbst löst sich die Zeit aus ihren Grenzen, wenn ich mit dir vereint bin und an deiner Seite lebe.«
Er küsste mich und flüsterte gegen meine Lippen: »Das ist die Ewigkeit für mich.«
WASET
Zornig sah RaEm den Priester an, der die Frechheit hatte, sie unaufgefordert aufzusuchen. Vor zwei Tagen hatte Echnaton die Neuigkeit im Reich kundtun lassen: Sein Bruder und Schwiegersohn Semenchkare werde für alle Zeiten als Mitregent an seiner Seite im Lichte des Aton herrschen.
Seither hatte RaEm den Audienzsaal nicht mehr verlassen, denn plötzlich tauchten viele der Adligen, die aus Achetaton geflohen waren, aus der Versenkung auf und baten um Vergebung.
Und Meritaton glaubte, den Göttern und Göttinnen sei Dank, schwanger zu sein, weshalb Tiye RaEm nicht mehr ganz so scharf im Visier ihrer Falkenaugen hatte.
»Mein Name ist Horetamun«, erklärte der Priester mit einer
Verbeugung. »Ich komme als Hohe Priester, um dich im Tempel Amun-Res willkommen zu heißen, Semenchkare.«
Genau das war der springende Punkt. Sollte Semenchkare diesen Priester offiziell willkommen heißen oder seinen Gott anerkennen, dann würde Semenchkare höchstwahrscheinlich die gesamte Macht verlieren, die ihm Pharao, ewig möge er leben!, übertragen hatte. Falls Semenchkare jedoch die Ohren vor diesem Geflöte verschloss, konnte es leicht passieren, dass er von einem Hagel verdorbenem Gemüses aus Waset hinaus eskortiert würde.
RaEm dröhnte der Kopf. »Sprich mich mit Semenchkare, ewig möge er leben!, an, Horetaton.« Schon jetzt war es heiß. Der Priester blinzelte sie dreist an. Die Sonne glänzte auf seiner kahlen Platte, leuchtete in seinem weißen Schurz und glitzerte bernsteingelb in den Augen des Leoparden, den er sich über die Schultern gelegt hatte. So langsam, dass es eher beleidigend als gehorsam wirkte, senkte er den Kopf.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sein Nicken auch die umstehenden Höflinge beeindruckte. Gut, dass sie überhaupt etwas beeindruckte; bald würden sie ebenfalls verhungern, ganz gleich, welchen Pharao sie unterstützten oder welche Götter sie verehrten.
Es gab nichts mehr zu essen, alle Lager waren bereits geöffnet worden. In ihrer Faust hielt sie den Papyrus mit der Antwort auf die erboste Anfrage, die sie an Echnaton geschickt hatte. Zwei Wochen nach der angemessenen Antwortszeit hatte sie zu lesen bekommen: »Ja, diese Lager wurden zur Feier des letzten Geburtstages von Amenhotep Osiris geöffnet.«
Glücklicherweise wollten die Männer, die auf dem Feld gearbeitet hatten, mit Steinen bezahlt werden, die es in Ägypten im Übermaß gab. Zu dumm, dass man Steine nicht essen konnte. Sie wandte sich wieder an den Priester.
»Meine Majestät -« aus irgendeinem Grund faszinierte es sie weniger, diese Worte auszusprechen, als sie geglaubt hatte, »heißt dich an seinem Hof willkommen, auch wenn du einen gesetzlosen Gott verehrst, dessen Name fürderhin nicht mehr fallen wird.«
Der Priester kniff die Lippen zusammen, erwiderte aber nichts darauf. Das Schweigen dehnte sich, das Rascheln der anwesenden Höflinge wurde provozierender. »Hast du noch etwas zu sagen?«, fragte RaEm irritiert.
Er sah zu ihr auf und blickte mit seinen braunen Augen direkt in ihre. »Der Segen der Jahreszeiten sei mit dir, Meine Majestät.«
RaEm erhob sich. Die Audienz war beendet.
Sie hatte eben ihre Robe an- und ihre Krone abgelegt, als der Zeremonienmeister den Kopf durch die Türe streckte. »Ein Mann möchte dich sehen, Meine Majestät.«
Wenigstens war es nicht dieses Muli Meritaton. RaEm rieb sich den Hals und bat den Mann herein. Eine Gestalt im Umhang trat ins Zimmer und schob gleich darauf die Kapuze ins Genick.
Der Hohe
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