Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
hier sind, Geliebte. Vielleicht werden wir das gleich erfahren?
Soll ich, Cheftu, in die Wüste und zum Berg Gottes ziehen?«, fragte er langsam. Er warf die Steine aus, und ich sah sie miteinander reagieren. Die Sonne schien einen Buchstaben nach dem anderen zum Leuchten zu bringen, und Cheftu las sie der Reihe nach vor.
Vor meinen Augen verwandelte sich das Gekritzel und Gekrakel in mir bekannte Buchstaben:
»D-E-R-W-I-L-L-E-Y-A-H-W-E-S-G-E-S-C-H-E-H-E.«
Er zog die Stirn in Falten.
»Heißt das, du sollst gehen, oder du sollst nicht gehen?« Ich starrte auf die Steine. Sie lagen reglos auf dem Boden, etwa zwei Handspannen voneinander entfernt. »Ich finde das eine schreckliche esoterische Antwort.«
»Das sind sie oft«, bestätigte er düster.
»Darf ich mal?« Ich fasste nach dem weißen.
»Ich dachte, du wolltest sie nicht anfassen?«
Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, nahm ich erst den einen, dann den anderen auf. Als ich meine Hände zueinander führte, spürte ich, wie sie in meinen Handflächen zu vibrieren begannen. Kraftblitze zuckten durch meine Arme. Es tat fast weh. »Soll ich gehen?«, fragte ich und warf sie aus.
»T-A-U-C-H-I-N-D-I-E-W-A-S-S-E-R-D-I-E-D-I-C-H-F-Ü-
H-R-E-N.«
»Vielleicht sind sie kaputt«, meinte ich. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Non, du hast die falsche Frage gestellt«, widersprach er. »Du hättest fragen müssen: >Soll Cheftu gehen?<«
»Huch!« Ich stellte die Frage noch einmal, und wir erhielten wieder
»D-E-R-W-I-L-L-E-Y-A-H-W-E-S-G-E-S-C-H-E-H-E.«
»Ach, als sie sagten, du seist bei Dagon, habe ich sie auch erst verstanden, nachdem ich nach Ashqelon gekommen war.«
Einen Moment lang wirkte er verwirrt. »Damals haben sie behauptet, du seist in Gefahr, doch als ich ankam, warst du ganz obenauf.«
»Wahrscheinlich habe ich in dem Moment gerade meinen Seiltanz absolviert.« Unwillkürlich war ich erstaunt über die Steine.
Cheftu wiederholte das Wort ganz langsam auf Englisch.
»Was ist das?«
»Eine lange Geschichte. Du hast sie nach mir befragt?«
Irgendwie konnte ich immer noch nicht fassen, dass dieser wunderbare, gut aussehende, witzige und liebevolle Mann mich liebte.
»Du wunderschöne idiote, aber natürlich! Allerdings hast du kaum fünf Tage später um das Leben von uns allen gefeilscht. Sie antworten immer genau, wir verstehen sie nur nicht.«
»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich. »Während du bei den Sklavenhändlern warst?«
Er presste die Hände gegeneinander und verstummte kurz.
»Ich werde es dir ein einziges Mal erzählen, und dann werden wir diese Sache hier in diesem Olivenhain zurücklassen, und zwar für alle Zeit, nachon?«
»B’seder.«
»Sie haben mich geschlagen«, erzählte er tonlos.
»Ausdauernder als alle anderen. Sie haben mich hungern lassen. Sie haben versucht, mich zu vergewaltigen, aber die, äh, Steine ...«
Mein Kopf lag in meinen Händen. Es machte mich verlegen, ihm zuzuhören, es tat mir Leid, dass ich gefragt hatte, dass ich das hatte wissen wollen. Cheftu räusperte sich. »Danach haben sie mich in Ruhe gelassen.«
Ich schwieg eine Weile. »Wieso willst du nicht wieder als Arzt arbeiten?«
»Wegen Aztlan.«
»Wieso?« Wir sahen einander nicht einmal an.
»Sie sind alle gestorben, Chloe.
Was wir auch versucht haben, sie sind gestorben. Nur ich, der Arzt, ach, nun, ich wurde urgesund.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Die Krankheit.«
Er seufzte tief.
»Ich habe mein Einfühlungsvermögen verloren.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Cheftu war eindeutig der einfühlsamste Mensch, den ich kannte. War er ausgebrannt? Ich wartete schweigend ab. Wenn er mir mehr erzählen wollte, würde ich ihm zuhören. Doch ich hatte eben eine unan-genehme Lektion bekommen, was das Fragenstellen anging.
Mit einem Seufzer lehnte Cheftu sich zurück. »In Aztlan sind die Menschen gestorben, ganz gleich, was wir versucht haben. Also haben wir nach dem Grund dafür gesucht.« Er sah auf seine Hände und drehte sie dabei hin und her, als könnte er die Antwort vielleicht in den Handfalten, in den Hautzellen lesen. »Als wir den Grund entdeckt hatten, als wir weitere Erkrankungen verhüten wollten, weil es keine Heilung gab, befolgte niemand unseren Rat. Niemand hörte auf uns. Niemand glaubte uns. Alle sind gestorben. Ohne Ende und ohne Sinn.« Er faltete die Hände und starrte mir in die Augen. »Ich merke, dass ich wütend auf sie bin. Sie haben ihren Tod selbst verschuldet, und dennoch lastet er
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