Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Denk nur an all die Haremsdamen mit ihren nervenaufreibenden Wünschen, an all die entkernten Datteln. Eine Sklavin! Also benimm dich auch wie eine! Ich biss mir auf die Zunge. »Was soll ich für dich tun?«
»Du sollst vom Brunnen aus dem Wasserlauf folgen und uns in die Stadt führen.«
»Was für einem Wasserlauf?«, wiederholte ich. Sprachen wir hier über die Kanalisation?
»Dem vom Brunnen aus, einem Trinkwasserbach.«
»Und wenn ich erwischt werde?«
Yoav zuckte mit den Achseln.
»Du gehörst nicht unserem Stamm an, darum wird man keinen Verdacht gegen uns schöpfen. Falls überhaupt, wird man die Pelesti ins Visier nehmen. Das ändert nichts.«
Er zog sein Messer aus der Scheide und hielt inne, um das Lampenlicht in der Bronzeklinge und in dem mit Steinen besetzten Heft blinken zu lassen. »Falls du mir den Weg in die Stadt nicht zeigen kannst, werden dich die Jebusi als Spionin der Pelesti hinrichten. Falls du mir jedoch den Weg in die Stadt nicht zeigst, werde ich dich persönlich töten.«
»Aha: Wenn ich bei dem Versuch scheitere, dann wirst du mich töten, und wenn ich bei dem Versuch erwischt werde, bin ich so gut wie tot. Aber wenn ich es nicht versuche, dann lässt du mich in Ruhe?«
Er sah kurz zu Avgay’el hinüber. »Nachdem ich sichergestellt habe, dass du mich nicht hintergehen wirst, ken.«
Ich bekam eine Gänsehaut unter meinem Kleid. »Und wie willst du das sicherstellen?«
Yoav ließ die Klinge langsam in die Scheide gleiten. »Ich schneide dir die Zunge heraus.«
Ich begann am ganzen Leib unkontrollierbar zu zittern. »Das ist doch ... ein Scherz? Oder?«
Er breitete die Hände aus. »Ich muss mich schützen. Ich habe Yeladim.«
Es war schwer zu glauben, dass er ein Vater war und mir trotzdem ohne Skrupel die Zunge herausschneiden würde. Ich antwortete langsam, denn plötzlich fühlte sich meine Zunge dick und pelzig an: »Und wenn ich es in die Stadt schaffe, dann lässt du mich frei?«
»Wenn du es in die Stadt schaffst und uns hineinführst, nachon. Dann bist du frei.«
»Du lässt mir keine große Wahl«, kommentierte ich trocken. Die ganze Sache war unglaublich.
Er rammte den Dolch endgültig in die Scheide zurück.
»Natürlich lasse ich dir die Wahl! Yoav ben Zeriu’a ist kein unbeschnittener Heide. Du kannst weiter bis ans Ende deiner sieben Jahre tagein, tagaus als Sklavin bei den schwangeren Müttern, den stillenden Müttern und den Frauen in der Regel dienen.«
»Ohne Zunge«, ergänzte ich.
Er zuckte mit den Achseln.
»Wieso ausgerechnet ich?«, wollte ich wissen. »Wieso nimmst du keine andere?«
Yoav sah erst Avgay’el, dann mich an. »Du bist nicht aus unserem Stamm, das erkennt man an jeder deiner Bewegungen. Und du bist keine ...« Seine Hände fuhren durch die Luft, als wollten sie nach dem richtigen Wort haschen. »Dir fehlt das Weibliche. Du bist wie eine Witwe, die alle Geschäfte ihres Gemahls führen kann, ohne dass sie die Hilfe eines Mannes brauchte.« Er wirkte bekümmert. »B’Y’srael...«
In Israel, kritzelte das Lexikon auf die Tafel.
». hatten alle unsere Anführerinnen diese Eigenschaft, diese Fähigkeit. Alle waren wie Witwen, von der großen Richterin D’vora bis hin zu Ya’el, die dem Wunsch ihres Mannes zuwider gehandelt hat. Selbst Yeftahs Tochter wirkte wie ein alleinstehendes Weib, als sie in die Wüste ging.«
Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren, und ich war ganz bestimmt keine Witwe. Und dass ich eine Mauer hinaufklettern und ein Ziel treffen konnte, bedeutete nicht, dass ich nicht weiblich war. Ich schoss wütende Blicke auf ihn ab, während ich mir zugleich ins Gedächtnis zu rufen versuchte, dass er ein Mann aus der Zeit vor Christi Geburt und für seine Kultur und seine Zeit ziemlich progressiv war . doch er hatte immer noch einen weiten Weg vor sich. Aber war er deshalb ein Idiot? Glaubte er tatsächlich, dass ich ihm eine Stadt ausliefern konnte, die nicht einmal vier Armeen eingenommen hatten? »Ich will das einmal klarstellen.«
»B’vakasha«, überließ er mir das Rednerpult.
Ich rang darum, nicht respektlos zu klingen. »Du willst, dass ich, eine Pelesti-Sklavin, euch die Stadt Jebus übergebe, damit ihr, dieselben Hochländer, die meine Schwesterstädte geplündert haben, die nächste Stadt plündern könnt? Du glaubst, dass ich, weil es mir an Weiblichkeit mangelt und ich in der Lage bin, einen Wasserkrug zu tragen, diese Jebusi dazu überreden kann, mich in ihren Brunnen, ihre einzige
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