Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
genommen werden. RaEm spürte ihre Angst wachsen. Sie umklammerte mit beiden Händen Krummstab und Geißel und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.
Seit jeher hatte Waset das Land regiert. Dort lebte seit Generationen der gesamte Adel. Dort wohnten hunderte und tausende von Priestern und Soldaten. Dort befanden sich mit Gold überladene Tempel voller Magie und Geheimnisse. Dort trennte Ägyptens Schlagader das Land der Lebenden von der Stadt der Toten. Daran hatte Echnaton nichts ändern können, wenigstens nicht dauerhaft.
»Ich habe nach dem Tod Meritatons mit dir getrauert«, sagte er.
RaEm warf ihm einen verstohlenen Blick zu - ahnte er etwas? Sie neigte den Kopf.
»Es war ein heldenhafter, tapferer Versuch, die Herrschaft des Atons überdauern zu lassen«, sagte er. »Doch er ist fehlgeschlagen. Es hat keine Kinder gegeben und Ägypten braucht frisches Blut. Kräftigeres, gesundes Blut.«
»Nur der Junge ist noch da.« RaEm war so unerträglich müde. »Und er kann nur seine Schwester heiraten.«
»Wie alt ist er?«
»Sieben.«
»Und sie?«
»Elf.«
Höret seufzte. »Ich liebe Ägypten, Meine Majestät. Ich habe nicht zu jenen gehört, die sich zur Wehr gesetzt haben, als die Steuern an die Tempel beschnitten wurden. Ich habe auch nicht protestiert, als meine Brüder in der Priesterschaft allmählich mehr Zeit zu Hause als beim Gottesdienst verbrachten, weil ihnen die Gläubigen und das Gold ausgingen.« Er verschränkte die Arme. »Die Tempel hatten zu viel Macht an sich gerissen. Die Entscheidungen wurden nicht mehr am Hofe Pharaos, sondern in den Gewürzgärten der Priester gefällt.« Seine braunen Augen waren weit offen. »Das war nicht recht.« Er sah zu ihr auf. »Amun versuchte, die Ma’at wiederherzustellen.«
Höret streckte den Arm aus. »Das Pendel schwingt erst nach Norden, dann nach Süden, ehe es über dem Nabel Gebs, der Erde, zur Ruhe kommt.«
RaEm nippte an ihrem Becher, musste, aber feststellen, dass er leer war.
»Pharao, ewig möge er leben!, hat das Pendel zu weit ausschlagen lassen.« Horets Stimme wurde hörbar metallischer. »Es ist an der Zeit, Ägypten wieder ins Lot zu bringen. Das Land liegt am Boden.« Er trat vor und sank auf die Knie, so wie er es von Anfang an hätte tun sollen, aber nicht getan hatte. »Ich liebe dieses rote und schwarze Land mehr als jede Frau, mehr als jeden Gott.« Als er wieder aufsah, waren seine Wangen tränennass.
»Lieber wäre ich im Nachleben namenlos -«
RaEm stockte der Atem.
»- als es weiter so bluten zu sehen.« »Weißt du, welchen Fluch du da auf dich lädst?«, flüsterte sie und spähte dabei in die dunklen Ecken des Saales.
»Namenlos?« Nichts fürchtete ein Ägypter so sehr wie vor den Göttern keinen Namen, keine Identität zu haben.
Namenlos zu sein, bedeutete, dass man ausgelöscht und vom Allesverschlingenden verspeist wurde. Danach würde das innerste Selbst weinend und verloren durch die Ewigkeit ziehen. Es war ein unaussprechlich grässliches Ende.
»Ich würde alles tun, um Ägypten von dieser Klippe der Zerstörung wegzuziehen«, sagte er.
RaEm schlug das Herz im Hals. Ägypten, das Land ihrer Wurzeln, das Land, das sie in ihrem Blut spürte, dessen Erde sie ernährte - oder Echnaton, der Mann, dessen Leib, Seele und Geist sie vergötterte? »Wie viel Zeit bleibt noch?«
Höret wandte den Blick ab. »Höchstens Monate. Die Adligen sind von Achetaton nach Waset zurückgekehrt. Der Pharao hat seine Machtbasis und seine wichtigste Stütze verloren.«
Sie gab ihm im Stillen Recht.
»Unter meinen Männern gibt es einen habsüchtigen Menschen, dessen Hass auf Pharao keine Grenzen kennt. Falls er wüsste, dass ich hier bin, würde er nicht einmal mich ungeschoren lassen.«
Sie nickte knapp. »Könnte man die Schmerzen mit Gold lindern?«
»Aber nur lindern, meine Majestät. Damit würde man das Unvermeidliche nur hinausschieben.«
»Ja, das habe ich verstanden, doch wir brauchen Zeit, bis Tu-ti erwachsen wird, und vielleicht -« Doch RaEm war klar, dass sich Echnaton nie ändern würde. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass er irgendwann zurechnungsfähiger und vernünftiger würde.
Bestand die Möglichkeit, dass sie allein als Pharao regieren konnte?
Er nickte nachdenklich.
»Wären die Menschen besser genährt, dann würden die Krankheiten nicht so viele Opfer fordern. Mit Gold könnte man auch einige der kleineren Tempel wieder in Stand setzen.«
»Ja, wenn wir sie wieder öffnen würden, beschwichtigt
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