Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
zum ersten Mal für möglich, dass diese Geschichte kein Märchen war.
»Ach, ken«, sagte sie. Ich erkannte »Ach ja«, doch sobald ihre Worte an mein Ohr drangen, verwandelte das Lexikon die gesprochene Sprache in lauter Bilder. Ich sah eine Barbie und dann ihren Ken vor mir. Die Barbie explodierte, doch Ken blieb stehen und nickte mir zu. Ken, schlug ich zaghaft vor, bedeutet also »ja«? Die Ken-Puppe lächelte. Das Ach war ein Kehllaut, den ich in Arabien immerzu gehört hatte. Was für einen Dialekt sprachen die Philister überhaupt?
»Wann bist du geboren?«, fragte ich.
»Ich wurde unter dem Zeichen des Krebses geboren«, antwortete sie.
Ich kannte mich nicht besonders gut bei den Sternzeichen aus, doch es überraschte mich, dass sie bereits bekannt waren. »Und in welchem Jahr?«
»Jahr?«, wiederholte sie.
»Wie alt bist du?«
»Alt? Wie alt?«
Ich formulierte es anders, um mich klarer auszudrücken. »Welches Jahr haben wir jetzt?«
»Das Jahr des roten Meeres«, antwortete sie eifrig.
Des roten Meeres. Richtig, ich hatte gesehen, dass das Wasser wie Blut aussah. Die rote Welle, dachte ich. Gab es nicht eine Band mit diesem Namen, oder bezog sich das ausschließlich auf die Ampelschaltung? Handelte es sich dabei nicht um ein Naturphänomen, das von irgendwelchen Tieren oder Pflanzen im Wasser herrührte? »Ist das Meer oft rot?«
»Nur wenn wir Dagon erzürnt haben«, erklärte sie. »Dann wird das Meer blutig, die Ernte verdorrt, und wir sterben.« Es schien ihr nicht das Geringste auszumachen, über die Auslö-schung ihres Volkes zu sprechen. »Jetzt musst du dich aber anziehen.«
Sie rannte davon, während ich mich vom Massagetisch schälte. Ich schaute aus dem schmalen Fenster. Dieser kleine Raum schloss sich direkt an den Haupttempel an. Wir befanden uns auf einer Anhöhe mit Blick auf die übrige Stadt, den Hafen und das Meer. Mit Zinnen versehene Mauern umschlossen die Stadt und reichten an beiden Enden bis ins Wasser, sodass das Hafenbecken mit all seinen Schiffen praktisch in den Armen Ash-qelons zu liegen schien.
Es waren eigenartig aussehende Boote mit schmalgesichtigen Kreaturen an beiden Enden. War ich in so einem Schiff hier angekommen? Ich wusste es nicht. Doch sie hatten die gleichen quadratischen Segel, riesige Segel, um hunderte von Männern über das Wasser zu tragen, und dazu Ruder, um die Reise noch zu beschleunigen.
Die Stadt selbst erinnerte mich mit ihren zwei- und dreistök-kigen Gebäuden, den schlichten, rechteckigen Fenstern und den vorgebauten Veranden an Griechenland. Ich sah Bäume in den Höfen, Flachdächer und schnurgerade Straßen. Alles Schnurgerade war untypisch für den Nahen Osten aus meiner Erinnerung. Ich hörte ein Geräusch hinter mir, glaubte, es sei Tamera, und drehte mich um.
Es war nicht Tamera. Es war ein Soldat.
Nur die Todesangst hielt mich davon ab, meine Nacktheit zu verhüllen und mich zusammenzukauern. Wenn ich meine Angst zeigte, würde er möglicherweise erkennen, dass ich eine Hochstaplerin war. Das durfte ich auf keinen Fall zulassen. Er andererseits erglühte zur Farbe eines Granatapfels. Seine Haare konnte ich nicht sehen, denn er hatte einen Kopfschmuck aus Federn aufgesetzt, ansonsten trug er eine Brustplatte aus Leder und Bronze über einem Schurz in klassischer A-Linie, der zwischen seinen Knien spitz zulief.
Er war glatt rasiert und hatte keinen Bleiglanz aufgelegt.
Das mag eigenartig klingen, doch es war das erste Mal, dass ich einen Mann in einem Kleid ohne Schminke sah. In Aztlan und Ägypten hatten die Männer ebenso wie die Frauen Bleiglanz, Lippenstift, Lidschatten, den ganzen Schnickschnack aufgelegt. So ganz ohne sah dieser Typ fast nackt aus.
Ich kramte wieder die Meeresherrinnenstimme hervor. »Du trittst ungebeten in mein Gemach ... Sterblicher?«
Er wusste gar nicht, wo er hinschauen sollte, darum starrte er auf den Boden. »Ich hatte, habe, hatte, habe Befehl, dich zu holen«, entschuldigte er sich.
Ich schätzte ihn auf vielleicht sechzehn. Seine Stimme war bereits tief, er war auch ausgewachsen, doch er strahlte die Tollpatschigkeit eines jungen Hundes aus, der noch nicht in seine Pfoten hineingewachsen ist.
»El’i«, kreischte Tamera von der Tür aus. »Was tust du hier?«
Das Mädchen kannte ihn? Aber wieso sollte mich das überraschen?
»Ich führe meine Befehle aus.« Er sah sie höchstens eine Sekunde lang an.
»Sie ist eine haDerkato! Man platzt nicht einfach so in das Zimmer einer Göttin! Sie
Weitere Kostenlose Bücher