Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
schieben?
Die Menschen unter mir klangen nicht besonders begeistert. Scheiße! Nach einer Auszeit, die erst zu Ende war, als der Schweiß auf meinen Händen getrocknet war und ich meine Fußfessel entwirrt hatte, stand ich wieder auf.
Ganz vorsichtig, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, arbeitete ich mich erst in eine Fötusstellung und dann in die Hocke hoch. Es war genau wie beim Wasserskifahren. Ganz, ganz langsam aufstehen. Meine Beine schlotterten, doch ich stand wieder auf den Füßen.
Unter mir brachen sie in Jubel aus.
Ich schaute nach vorn; immer noch dunkel, aber nur noch halb so schwarz.
Nach zwei weiteren Stürzen ertastete ich endlich die Felskante. Meine Schulter war inzwischen komplett ausgerenkt. Ich brach auf dem festen Stein zusammen und zerrte mit meiner unversehrten Hand an der Neonschnur. Ich musste sie verschwinden lassen, ich ahnte nämlich, dass sie einen solchen Beschiss nicht gutheißen würden.
Hände legten sich auf mich, Wein netzte meine Lippen und für kurze Zeit spürte ich nur noch den Adrenalinrausch, es geschafft zu haben. O Gott, ich hatte überlebt! Danke, petroche-mische Industrie! Danke, Gott! Meine Hände zitterten zu stark, als dass ich mir das Gesicht abwischen konnte. Meine Schulter schmerzte unerträglich.
Ich hoffte nur, dass ich den Felsen nicht mehr hinunterklettern musste. Ich glaubte nicht, dass ich noch stehen konnte.
»HaDerkato?«, fragte Tamera.
Jemand zerrte an meinem ausgerenkten Arm; ich hörte mich schreien, dann wurde es schwarz um mich herum.
Nur weil RaEm von Chloes Welt erzählte, war sie zu ertragen. Sie erzählte Cheftu von Chloes Schwester, der Ägyptologin Camille; von Chloes Kleidung, die größtenteils schwarz und asymmetrisch geschnitten war; von Chloes Exfreunden, die RaEm zwar aus halb verblassten Erinnerungen seiner Geliebten gestohlen hatte, die ihm aber dennoch unangenehm waren; und von Chloes Tätigkeit als Grafikerin. Für RaEm war Kunst etwas, das Sklaven und Dienern vorbehalten und somit weit unter ihrer Würde war.
Soweit Cheftu erkennen konnte, hatte RaEm, nachdem sie sich monatelang gegen die gemachte Erfahrung gesträubt hatte, beschlossen, die Rolle der Chloe zu spielen. Ihm fiel auf, dass jeder von ihnen, er, RaEm und Chloe, nach dem ersten Zeitsprung in eine fremde Rolle geschlüpft war. Weil sie Angst davor hatten, entdeckt zu werden? Oder war das einfach auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass man, wenn man sich nicht einfügte, in einer fremden Welt ungeheuer einsam war?
Allerdings hatte RaEm ihre Fassade von Anfang an nur notdürftig aufrechterhalten können, denn ihr fehlte jedes Talent. Chloes Malsachen hatte sie kein einziges Mal angerührt, was in der Neuzeit anscheinend einige Fragen aufgeworfen hatte. Doch hätte RaEm sich, falls sie sich anders geäußert oder anders gehandelt hätte, um einige physische Annehmlichkeiten und um Gesellschaft gebracht. Und das würde RaEm auf gar keinen Fall tun. Dennoch hatte es ihr keine Ruhe gelassen, dass sie in Chloes Zeitalter und Gesellschaft so unbedeutend sein sollte; das wusste er inzwischen.
Natürlich wusste er inzwischen alles. Er wusste, dass sie Neon und fluoreszierende Materialien liebte sowie alles, was im Dunklen leuchtete. Er wusste, wer J. R. erschossen hatte. Er kannte alle Speisen, die im Hilton von Kairo serviert wurden.
Dieses Wissen wäre angenehm, sogar unterhaltsam gewesen, wäre es nicht mit negativen Kommentaren durchtränkt worden. Mit Klagen und Sticheleien, die ihre Weltsicht prägten. Sechs Tage mit dieser Frau zusammen auf einem Felsen - durch diese Strafe waren gewiss all seine Sünden getilgt!
Der Wassermangel machte sich bemerkbar, beide litten unter grauenvollen Kopfschmerzen. Salzwasser zu inhalieren verätz-te nur ihre Nasenhöhlen, und das wenige Süßwasser, das sie auflecken konnten, machte sie krank. Die Situation spitzte sich allmählich zu.
Er besaß immer noch die Orakelsteine, die Urim und Thummim, die er und Chloe aus Aztlan mitgebracht hatten, doch RaEm sollte keinesfalls erfahren, dass er sie bei sich hatte. Da das Inselchen kaum breiter war, als er von Kopf bis Fuß maß, gab es keinerlei Intimsphäre. Falls sie erfuhr, dass er die Zukunft vorhersagen oder zumindest mit dem einen Gott Verbindung aufnehmen konnte, würde sie ihn wahrscheinlich umbringen. Die Vorstellung, RaEm könnte in die Zukunft schauen, war beängstigend. Wie würde sie dieses Wissen für sich ausnutzen ... diesen Gedanken wollte er lieber nicht
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