Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
verstärken.
»HaDerkato!«, rief Tamera. Unter mir wurde die letzte Fak-kel gelöscht. Das Neon war bereits wieder verblasst, doch es glühte immerhin noch so hell, dass ich einen Schritt voraussehen konnte. »Ogottogottogott«, flüsterte ich fast unter Tränen.
Sie begannen meinen Namen zu singen. Ich wagte mich einen Schritt vor und merkte, dass mich mein Kleid umbringen würde. Ohne lange nachzudenken, streifte ich es ab. Der Wind war eisig, aber ich konnte mich wenigstens frei bewegen.
Ein Schritt und ich spürte das Seil unter meinen Füßen. Als der erste Fuß einigermaßen sicher stand, zog ich langsam das zweite Bein von der Plattform weg.
Stell dir vor, du stehst auf einem Schwebebalken, redete ich mir ein. Das ist bloß ein Schwebebalken, das ist bloß ein Schwebebalken. Konzentrier dich auf das andere Ende, schau nach vorn. Das tat ich. Dort war alles stockfinster.
O Gott, o mein Gott.
Schwebebalken, Chloe. Erinnere dich, weißt du noch, wie es in deiner Kinderzeit war? Erinnerst du dich an den Stützpunkt in Südspanien? Wie gern hast du geturnt. Du hast Turnunterricht genommen ... Ich schob das erste Bein vor und spürte, wie sich der Neonschlauch um meinen Knöchel zusammenzog. Meine Zehen berührten und erfassten gleich darauf das Seil.
Einen Sekundenbruchteil kam ich ins Schaukeln, dann spürte ich, wie ich das Gleichgewicht wieder fand. Ich stand fest und bequem. Die nächsten paar Schritte waren einfach, Schrittlänge und Timing schienen das einzig Problematische zu sein. Dann brachte mich eine Windbö aus dem Gleichgewicht. Ich hörte, wie ich den Atem anhielt, und wurde erneut von Angst gepackt. Das Gleichgewicht halten, Chloe. Mach langsam, ganz langsam.
Ehe wir aus Spanien wegzogen, war ich innerhalb weniger Wochen von einem Meter fünfundsechzig auf einen Meter fünfundsiebzig geschossen.
Wieder machte ich ein paar Schritte. Meine Brustwarzen waren so kalt, dass sie sich wie aufgeklebt anfühlten. Meine Beine zitterten vor Anstrengung. Mein Haar war schweißnass, und ich konnte immer noch nicht das Ende des Seiles sehen. Weiter, ermahnte ich mich selbst. Erinnerst du dich an den Sommer damals? Ich war heim nach Texas geflogen, zu meiner Großmutter Mimi. Sie hatte mich nur kurz angeschaut und mich dann woanders angemeldet. Beim Ballett. In der Mannequinschule. In der Tanzschule. Sie ließ mich mit einem Buch auf dem Kopf herumlaufen, sie schaute zu, während ich ohne Ende Tendus, Demipliés und Relevés übte; sie ließ sogar eine Ballettstange auf der hinteren Veranda anbringen.
Noch ein paar Schritte; es wurde allmählich leichter. Noch ein paar. Ich hatte schon fast die Hälfte geschafft! Das flüchtige Gefühl des Beinstreckens und langsamen Vorgleitens war sofort wieder da. Der Wind hatte sich gelegt; die Menge war verstummt. Mit zusammengebissenen Zähnen entkrampfte ich die Fußsohle und brachte sie behutsam nach vorn, bis knapp vor den anderen Fuß. Ich wollte mein Gewicht in den Hüften und Schenkeln nicht verlagern, deshalb kamen große Schritte nicht in Frage. Noch ein Schritt, inzwischen war mir so heiß, dass ich schwitzte. Die Arme hatte ich zur Seite gestreckt, um besser Balance halten zu können.
Bis ich aus Texas abreiste und zu meiner Familie zurückkehrte, die mittlerweile in die Türkei umgesiedelt war, hatte ich meine Glieder wieder unter Kontrolle. Ich hatte noch mal ein, zwei Zentimeter zugelegt, doch ich verstand mich zu bewegen. Als Mimi mich zum Flughafen brachte, zu dem Flug nach Rom, wo ich umsteigen musste, hatte sie mich in die Arme geschlossen. Ich hatte ihr gedankt.
Und mitten in meiner Dankesrede -
Begann das Seil zu wackeln. Die Menschen schrien auf. Ich stürzte.
Weil ich festgebunden waren, blieben meine Füße am Seil; außerdem hatte ich mich mit den Händen festgehalten. Doch mein Körper hing jetzt nach unten. Unter mir sperrten die Krokodile erwartungsvoll ihre Mäuler auf. Ich zögerte keine Sekunde; ich zog mich wieder auf das Seil hoch, mit brennenden Händen und einer ganz oder fast ausgerenkten Schulter.
Das Seil wackelte zwischen meinen Schenkeln hin und her. Die Neonfessel hatte sich verdreht, sodass ich verkehrt herum auf dem Seil zu liegen kam. Die Zuschauer zischten.
Worte, bei denen sich Mimi im Grabe umgedreht hätte, schossen aus meinem Mund. Auf dem Bauch liegend und gegen die Tränen ankämpfend fragte ich mich, wie ich wohl wieder hochkommen sollte. Scheiße! Scheiße! Konnte ich mich mit den Händen bis zum anderen Ende
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