Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
bestätigte Wenaton. »Er hat kein Dach.«
»Was für ein Idiot baut so etwas?«, fragte RaEm.
Ausnahmsweise war Cheftu mit ihr einer Meinung.
Wenaton schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, aber entworfen hat es Pharao. Amun-Re, der nicht wollte, dass das wenige Gehirn seiner Priester auch noch verglüht, hatte Tempel mit Dächern. Es war sogar kühl darin, falls du jemals in einem warst.« Er betrachtete Cheftu mit seinem langen, lockigen Haar.
»Offenbar nicht«, urteilte Wenaton schließlich. »Jedenfalls will der Aton sein Licht auf uns herabregnen lassen. Und zwar den ganzen Tag. Jeden Tag. Von morgens bis abends. In heißer, glühender Hitze.« Wenaton legte eine Hand an die Stirn. »Die Seereise hat meine Brandblasen geheilt, aber du hättest sie sehen sollen! Ich habe mich geschält wie eine Zwiebel aus Ashqelon! Was für ein Opfer an Aton.«
»Widerwärtig«, bekundete RaEm von oben herab.
»Das ist die neue Hoftracht. Ein Sonnenbrand.
Ein Sonnenbrand bezeugt, dass man ein guter Ägypter und dem Aton treu ergeben ist.«
Wenaton zögerte einen Augenblick und wirkte plötzlich weniger lächerlich und wesentlich nachdenklicher.
»Die Gesandten aus dem Ausland sind überzeugt, dass Pharao verrückt geworden ist«, meinte er betreten. »Die meisten Adligen Ägyptens haben ihm bereits abgeschworen.«
RaEm sah den kleinen Mann mit offenem Mund an.
Wahrscheinlich hatte sie noch nie gehört, dass jemand nicht zufrieden mit der herrschenden Klasse war, und schon gar nicht in Ägypten. Cheftu erstickte ein Lächeln. Was sie wohl sagen würde, wenn er ihr erzählte, dass seine Landsleute ihren Monarchen Louis XVI. nicht nur abgesetzt, sondern auch einen Kopf kürzer gemacht hatten?
Rebellion war im alten Ägypten unbekannt, denn Pharao war die Verkörperung Gottes. Wenigstens war Rebellion früher im alten Ägypten unbekannt gewesen.
»Wer ist Pharao?«, erkundigte sich Cheftu vorsichtig.
Der Kleine richtete sich zu voller Größe auf, drehte die Handfläche nach oben und hob die Hand. »Pharao, ewig möge er im Aton leben!, ist Echnaton.«
Ech-na-ton, wiederholte Cheftu im Geist. Er lebt in Ach-et-a-ton, das offenbar nach ihm benannt wurde.
»Wer ist seine Gefährtin?«
Cheftu sah, wie die Räder ihrer Habgier zu mahlen begannen.
»Ah, früher war das Nofretete. Was für eine Frau ...«
Wenaton verstummte mit verträumter Miene. »Sie hat sogar wie eine Frau ausgesehen. Zu schade, dass sie verbannt wurde. Sogar über das große Grün verschifft wurde, glaube ich. Ihr Gesicht war so lieblich, dass ihretwegen tausend Schiffe Segel gesetzt hätten.« Er seufzte wieder.
Cheftus Haut kribbelte. Wann würden diese Männer ihnen etwas zu trinken geben? Seine Zunge war festgeschwollen.
»Wenn sie nicht mehr da ist, wer regiert dann an Echnatons Seite?«, schmunzelte RaEm den spindeldürren Botschafter an.
»Niemand lange. Pharao hat alle seine Töchter geheiratet, in dem Versuch, einen Sohn und Thronerben zu zeugen.« Der kleine Ägypter wischte sich die Nase an der Handfläche ab. »Seit zwei Überschwemmungen habe ich keinen Fuß mehr auf ägyptischen Boden gesetzt. Neues werde ich erst erfahren, wenn wir im Delta anlegen.«
Auf einen Ruf hin drehten sie sich um, und Wenaton strahlte vor Freude, als er das Schiff jetzt dicht vor der Insel liegen sah. »Aii, ich weiß es zu schätzen, dass ihr mich in eurem Heim empfangen habt.« Er verbeugte sich. »Der Aton segne euch.«
»Warte!«, rief RaEm. »Du kannst uns nicht hier zurücklassen! Hier haben wir überhaupt nichts!«
»Daran hättest du denken sollen, als du diesen langhaarigen Gecken geheiratet hast. Wovon lebst du eigentlich?«, wandte sich Wenaton an Cheftu.
»Wir sind nicht verheiratet«, widersprach Cheftu, die Zähne fest zusammengebissen. »Und ich bin . königlicher Berater«, ergänzte er, ohne sich von RaEms Schnauben aus dem Konzept bringen zu lassen.
Wenaton hielt inne und sah ihn zornig an. »Und wieso bist du dann nackt? Und sitzt hier draußen mit deiner Braut, wenn du nicht mal mit ihr verheiratet bist? Was für ein Berater bist du denn, so ganz ohne König?« Er blickte über Cheftus Schulter. »Oder ist hier irgendwo ein König?«
»Ich war nicht - es ist nicht -«, setzte Cheftu an, dann gab er auf und lief Wenaton hinterher, der bereits in seinen Kahn kletterte. »Herr, wir sind nicht verheiratet. Wir leben nicht hier. Wir sind schiffbrüchig.«
»Bringt uns nach Ägypten«, heulte RaEm. »Bitte, bei aller Liebe zu
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