Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
weiterspinnen.
Er wälzte sich auf die Seite.
Bald würde die Abenddämmerung des sechsten Tages anbrechen. Das mit dem Angeln hatte drei Tage lang ganz gut funktioniert, doch die vergangenen drei Tage hatten ihm nichts eingebracht. Nichts außer RaEms stichelnden Nörgeleien und ihren egozentrischen Bemerkungen.
Schließlich war Cheftu ihr über den Mund gefahren. Sie hatte ihn mit obszönen Beschimpfungen überhäuft und dann den restlichen Tag nur aufs Wasser gestarrt. Eigentlich war es ganz angenehm gewesen, so in aller Stille vor sich hin zu dösen.
War das gestern oder vorgestern gewesen? Er konnte sich nicht mehr entsinnen, er konnte sich keine andere Zeit mehr vorstellen als jenen Moment, den sie gerade durchlebten. Er hatte so lange auf den Horizont gestarrt, dass sich das Bild in seine Augäpfel geätzt hatte; ob Morgen, Mittag oder Abenddämmerung machte keinen Unterschied.
Wieder ging sein Blick übers Wasser, aber Moment! War da nicht ein Schatten? Langsam setzte er sich auf und beobachtete, wie der Schatten an Masse gewann. Es wurde schon dunkler, doch er war sicher, dass da ein Schiff fuhr! Wie konnte er die Seeleute nur auf sich aufmerksam machen?
Was hatte das Schiff hier zu suchen?
Die ganze Nacht hindurch heftete Cheftu seinen Blick auf denselben Fleck und betete dabei, dass er nicht halluziniert hatte, dass der Schatten am nächsten Morgen noch da sein würde. Als das Licht auf sein Gesicht fiel, wachte er mit einem Ruck auf und starrte hinaus aufs Wasser. Kein Schiff.
Die Enttäuschung war so bitter, dass er sie auf der Zunge schmeckte. Sie würden verdursten, inmitten von lauter Wasser. Vielleicht sollte er die Steine befragen; was sollte denn jetzt noch geschehen? Er schaute über die Schulter zurück, nur für den Fall, dass er sich in der Richtung getäuscht hatte.
Das Schiff hielt genau auf sie zu! Das war ihre Rettung! Ein Wunder!
»RaEm, schau! Schau!«
Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Ob sie uns sehen?«
»Ganz bestimmt«, sagte Cheftu. »Sie halten genau auf uns zu.« Er sah wieder auf das Schiff und versuchte einzuschätzen, in welcher Epoche sie sich befanden. Die Takelage war nicht typisch ägyptisch, trotzdem leuchtete auf dem Toppsegel ein ägyptisches Zeichen. »Was ist das für ein Symbol?«, fragte er.
»Die Scheibe mit den Händen?« RaEm blinzelte zu dem
Tuch hoch, das sich im Wind blähte.
»Ist das eine Hieroglyphe?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Das Schiff steuerte immer noch genau auf sie zu, doch es behielt auch sein Tempo bei. Im Gegenteil, es beschleunigte noch, denn es setzte Segel und Ruder ein. »Bist du sicher, dass sie uns gesehen haben?«, fragte RaEm. Sie waren beide aufgestanden; die Hoffnung hatte ihnen neue Kraft verliehen.
Das Schiff würde an ihrer Insel zerschellen!
»Nein«, erkannte Cheftu. »Sie sehen uns nicht! Wir müssen schreien, brüllen, sie warnen.«
Plötzlich drehte das Schiff ab, weg von ihnen und der Insel.
»Was in Horus’ Namen tun sie da?«, entrüstete sich RaEm, die Hände in die Hüften gestemmt. Wenn das Schiff seinen jetzigen Kurs beibehielt, würde es einfach an ihnen vorbei segeln.
Vorbeisegeln und sie zurücklassen. Cheftu legte die Hände an den Mund und brüllte aus Leibeskräften. Würden sie seine Rufe über dem Schlag der Trommel hören? Wieder hielten die Ruderer inne und die Segel welkten dahin. Das Schiff kam zum Stehen.
RaEm und Cheftu sahen stehend zu, wie die Sonne aufging. Sie hörten Gesprächsfetzen, konnten aber nichts verstehen.
»Was tun sie da?«
RaEm war vom vielen Schreien schon heiser.
»Das kann ich beim besten Willen nicht sagen«, antwortete Cheftu und blinzelte zum Schiff hin. Plötzlich setzten die Ruder wieder ein, sodass das Schiff fast rückwärts setzte.
»Sie werden uns hierlassen!«
RaEm sprang ins Wasser und schwamm auf das Schiff zu, das jetzt wieder von ihnen wegsegelte.
Cheftu sah entsetzt zu. Was für eine Farce! Das durfte doch nicht wahr sein! Er schob die Finger in den Mund und blies mit aller Kraft, sodass der schrille Pfiff bestimmt bis Kreta zu hören war.
Das Schiff kam zum Stehen.
»Mann über Bord!«, rief jemand. Cheftu sackte erleichtert in sich zusammen, als er sah, wie ein Kahn an der Schiffswand herabgelassen wurde und auf RaEm zuruderte.
Grâce à Dieu! Welcher Idiot stand denn da am Steuer?
Erstaunt, dass RaEm ihn nicht vergessen hatte, verfolgte Cheftu, wie der Kahn sich seinem Inselchen näherte. Als das Boot größer wurde,
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