Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Tod, glaube mir! Es gibt nur noch einen Gott in Ägypten! Einen einzigen! Und dessen Name ist Aton!« Wenaton lehnte sich zurück, anscheinend beruhigt, und fuhr mit normaler Stimme fort: »Den Namen eines anderen Gottes auszusprechen ist ein strafbares Vergehen. Die Verehrung findet täglich im Tempel des Aufgangs des Atons statt, wo sich alle einzufinden haben. Keiner darf fehlen. Falls jemand zu spät oder gar nicht erscheint, werden Strafen erhoben.«
Er stand unvermittelt auf.
»Ich muss pissen«, sagte er und taumelte davon.
Cheftu nahm einen Schluck Bier. »War der Aton nicht nur eine unbedeutende Eigenschaft Amun-Res?«, flüsterte er RaEm zu.
Sie sah ihn zornig an, weil er den Namen von Ägyptens Gott ausgesprochen hatte; doch nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihnen zuschaute, zuckte sie mit den Achseln. »Ich habe noch nie von diesem Gott, diesem Aton gehört. Wie eigenartig, Ägypten ohne Götter. Was ist aus Hathor geworden? Isis? Neith? Bastet?« Sie sah ihn an. »Gibt es überhaupt keine Göttinnen mehr?« Sie wies auf das Toppsegel, das schlaff über ihnen hing. »Dieser Gott hat nicht mal ein Gesicht! Wie können wir etwas verehren, das keine Augen hat, uns zu sehen, und keine Ohren, uns zu hören?«
Cheftu blickte auf das Symbol: eine Scheibe, von der Strahlen ausgingen, die jeweils in einer offenen Hand endeten. Wie hatte dieser Pharao sein Volk von etwas abbringen können, das die Menschen seit vielen Jahrtausenden gekannt und verehrt hatten? Das ergab keinen Sinn.
»Ich gehe auf meine Liege.«
Er stand auf und leerte sein Bier.
RaEm sah weg.
»Ich glaube, ich werde noch etwas wach bleiben«, sagte sie.
Du meinst, du willst Wenaton noch verführen, erkannte Cheftu. Dennoch nickte er und ging davon. Sobald er in seiner
Zeltkabine war, streckte er sich auf seiner Strohmatte aus und zog die Steine wieder hervor.
»In welchem Land befindet sich Chloe?«, fragte er flüsternd.
»I-N-D-E-M-L-A-N-D-
D-E-I-N-E-R-B-E-S-T-I-M-M-U-N-G«
Cheftu pustete die Lampe aus.
»Zut alors.«
Fluchend wälzte ich mich herum. Meine Schulter war immer noch extrem empfindlich, doch wenigstens war sie wieder eingerenkt. Wie zum Teufel ich diese wahnsinnige batmaneske Seiltänzerei überlebt hatte, war mir nach wie vor nicht klar.
Wenigstens war ich am Leben. Ich konnte gehen.
Außerdem war ich, ob es mir gefiel oder nicht, die lokale Göttin. Ich wusste nicht genau weshalb, doch indem ich es ans andere Ende des Seiles geschafft hatte, hatte ich den Liebhaber Mexos überlistet, ich hatte Dagon nicht umarmt, und ich war eins mit der Muttergöttin geworden. Wie bei vielen Völkern des Altertums - allmählich hatte ich das Gefühl, zu einer Autorität in Sachen Völker des Altertums zu werden - musste nicht alles, was die Menschen glaubten, mit allem anderen, was sie glaubten, zusammenpassen. Tatsächlich konnten die Geschichten einander sogar widersprechen, ohne dass das als inkonsequent empfunden wurde.
Der westlichen, linearen Denkweise lief das zuwider.
Doch für den östlichen Geist, in dessen Gesellschaft ich hier wie in meiner Kindheit lange Zeit gelebt hatte, ergab alles auf eigenwillige, verdrehte und verworrene Weise Sinn.
Infolgedessen war ich die örtliche Göttin, eine Facette der großen Göttin Astarte. Man hatte mir ein Haus, Tamera als Zofe, etwas zu essen, Kleider und Macht gegeben. Man hatte mich eingeladen, bei den Serenim, den Stadtältesten, zu sitzen, wenn sie sich Rechtsstreitigkeiten anhörten und Urteile fällten. Ich sollte an jedem Essen und jedem Ereignis teilnehmen, und davon gab es eine Menge. Dumm war nur, dass ich nie ohne Begleitung unterwegs war, dass ständig jemand für mich sorgte und dass meine Chancen, in der Menge unterzutauchen und per Anhalter nach Ägypten zu gelangen, gleich null waren.
Vor allem solange ich meine linke Schulter mitsamt dem zugehörigen Arm und der Hand nicht einsetzen konnte. Sie war noch nicht ausgeheilt. Auch wenn man sie wieder eingerenkt hatte, so war die Schwellung noch nicht ganz zurückgegangen. Ich blickte zu Dagon auf, da ich noch an seiner Schwanzspitze logierte, bis ich mein neues, göttinnenwürdiges Domizil in Besitz nehmen würde. »Heya«, flüsterte ich dem Götzenbild zu. Stöhnend und gar nicht meeresherrinnengemäß setzte ich mich auf. Was hätte ich nicht für einen Kaffee gegeben! Oder eine Schmerztablette.
»HaDerkato?«
Ich winkte Tamera herein. Sie brachte mir ein Frühstück aus gegrilltem Fisch
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