Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
meiner Seele geschehen? Was hatte mich dazu getrieben auszuharren?
Die Angst. Die Angst davor, allein zu sein, einsam zu sein.
Es war eine beängstigende, unbekannte Welt. Solange ich mitspielte, überlebte ich.
Wenigstens rechtfertigte ich mich damit.
Wir stiegen in unsere klobigen Karren und rumpelten zurück zum Palast. Ich wurde mit allen anderen auf die Feier begleitet. Das Essen wurde serviert, Getreidebrei mit Getreideküchlein in Fischform. Wir waren mitten im Essen, als ich einen Schrei hörte.
» HaDerkato, für dich!«, erklärte Tamera.
Entsetzt sah ich auf. Der überlebende Gladiator strahlte mich an, ein Tablett in den ausgestreckten Armen haltend. Ein Tablett mit den offenen, blinden Augen, dem zu einem Schrei aufgerissenen Mund und dem durchtrennten Hals des letzten Duellgegners. Man servierte mir den Kopf des Mannes auf einem Silbertablett!
Das Getreide schoss mir aus dem Magen zurück in den Mund; was sollte ich nur tun? Lieber Gott, bitte hilf mir!
Ich schaute hoch in die Augen des Gladiators.
In seine bronzefarbenen Augen. Schwarzes Haar fiel über seine breiten Schultern. Er glänzte ölig nach seinem Nachgemetzelbad. Er trug den spitz zulaufenden Schurz der Pelesti, und die untere Hälfte seines Gesichtes verschwand hinter einem Bart. Wieder sah ich in seine leuchtenden Augen, und mein Herz begann wild zu klopfen.
War das möglich?
»Meeresherrin«, meldete sich König Yamir zu Wort, »es ist Brauch, den Sieger mit einem Kuss zu belohnen.«
Der Gladiator stellte das Tablett mit dem Kopf auf dem Tisch ab, direkt neben meinem Essen. Ich hob das Gesicht an, denn mir war klar, dass ich Cheftu, falls er das war, falls er in den Körper dieses Mannes geschlüpft war, an seinem Kuss wieder erkennen würde.
Erst strich der Gladiator mit seinen Lippen über meine, dann zog er mich mit Bärenkräften in seine Arme und dabei quer über den Tisch. Grob bohrte er seine Zunge mehrmals in mei-
nen Mund, zerquetschte dabei meine Schulter und drückte seine Lippen auf meine, bis ich die Zähne darunter spüren konnte. Meine Schulter schmerzte so sehr, dass ich Sterne sah.
Das war nicht Cheftu.
Der Gorilla gab mich frei, und ich sackte benommen auf meinen Platz zurück.
Die Pelesti jubelten; es war ein leicht zu unterhaltender Menschenschlag. Der Gladiator grinste und ließ dabei erkennen, dass die Zähne, die er gegen meinen Mund gepresst hatte, seine letzten vier waren. Ich unterdrückte ein Schaudern. Mein Blick fiel auf das Tablett, auf die schlammbraunen Augen des unglückseligen Gegners. Ich redete mir ein, es sei nur Wachs. Nur eine Nachbildung. Nicht echt. Echt nicht, Chloe.
Wadia untersuchte währenddessen mit der transchronologischen Faszination aller männlichen Teenager für das Grausame den abgetrennten Kopf, hob dabei die Haare an und schaute in die Ohren. Meine Wangen waren blutleer. Ich fühlte mich schrecklich. Bitte mach, dass ich nicht spucken muss, flehte ich das Universum an.
»Bringt ihn zu Dagon«, flüsterte ich.
»Opfert ihn dem Meer«, erklärte ich Tamera.
Das fanden sie eine tolle Idee, darum machte sich eine Gruppe tanzend und singend auf den Weg ans Ufer, den Kopf wie ein Banner vorneweg tragend.
Das blutbesudelte Tablett ließen sie mir da. Ich winkte Tame-ra zu mir.
»Bring das weg«, sagte ich. »Ich kehre zum Tempel zurück.«
»Möge die Göttin deinen Schlaf behüten.«
Möge die Göttin mich vor Albträumen bewahren, dachte ich, während ich in den Karren kletterte.
Ich erwachte in einer anderen Stadt.
Es war keine physische Ortsveränderung, doch die Fröhlichkeit und die verspielte Atmosphäre waren über Nacht in grimmigen Ernst und Kampfbereitschaft umgeschlagen. Hochländer waren gesichtet worden, die von ihren Festungen im Gebirge auf uns herabschielten. Das war das erste Anzeichen des Frühlings, erläuterte man mir.
»Sie haben Angst, sich in der Ebene mit uns zu messen«, prahlte Wadia später. Wir hatten zusammen zu Abend gespeist; jetzt saßen wir draußen unter den Sternen. Mit Wadia kam ich besser aus als mit jedem anderen.
Er war ein Teenager; die waren überall gleich.
»Wenn sie sich in der Ebene mit uns messen würden, würden wir sie mit unseren Streitwagen vernichten.«
»Sie haben keine Streitwagen?«
»Lo, nicht einmal Pferde.«
»Wie kommen sie dann voran?« Ich zupfte mir eine Feige aus der Obstschale. Es war die Zeit der Feigen, eine willkommene Abwechslung von der Getreide- und Schalottendiät. Nur zum Frühstück bekam
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