Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Blick. Er verhielt sich unhöflich, doch andererseits war er zwei Jahre lang unterwegs gewesen. Bestimmt genoss er es, wieder daheim zu sein.
RaEm hatte sich nach ägyptischer Sitte den Kopf rasiert und trug eine neue Perücke, >Kushitin< genannt und genauso schräg geschnitten und gelockt wie Wenatons. Das sei der letzte Trend am Hof, hatte man ihr erzählt, außerdem war es ein weiterer Hinweis darauf, dass man unter diesem neuen Regime hohe Stücke auf ein androgynes Aussehen hielt. Nach mehreren Versuchen hatte sie es aufgegeben, Cheftu zu erklären, was »Trend« bedeutete, da das Ägyptische, in dem sie sich unterhielten, keinen entsprechenden Begriff kannte.
Trendig oder au courant widersprach dem ägyptischen Ideal von Perfektion, der Ma’at In der Ma’at veränderte sich nie etwas. Alles verharrte in einem universellen Gleichgewicht - in dem ganz oben ein Pharao herrschte, während die Gemeinen das Feld bestellten und sich die Adligen am Nil gütlich taten -, und zwar in diesem Leben wie im nächsten. Diese göttliche Stabilität war es, wonach jeder vernünftige, ergebene Ägypter strebte.
Neue Moden waren eine Veränderung. Neue Perückenstile waren eine Veränderung. Der neue künstlerische Stil war eine noch größere Veränderung. Der Ägypter, der Cheftu siebzehn Jahre lang gewesen war, fand das erschreckend; dies war nicht das Ägypten, das er kannte und verstand. Hingegen betrachtete der Franzose in ihm, der von ganzem Herzen an Liberté, Fraternité, Égalité geglaubt hatte, Veränderungen als Fortschritt. Die meisten Veränderungen wenigstens. Cheftu drehte sich zu RaEm um.
Geplättete Leinenärmel bedeckten ihre Arme vom Schlüsselbein bis zu den Handgelenken, auch das war neu, während der
Rock ihres Gewandes in mehreren Schichten über einem festen Unterrock lag.
RaEm hatte erklärt, sie genieße es, wieder in einem schwarzhaarigen und kupferhäutigen Körper zu stecken, selbst wenn er einem anderen Menschen gehörte; alles andere war ihr egal.
Die Götter seien gelobt, dachte Cheftu, der Körper, in den sie getreten war, hatte den Vulkanausbruch auf Aztlan ohne bleibende Narben überstanden, selbst wenn RaEm immer noch knabenhaft zierlich war. Ohne Perücke oder Kleid hätte man sich fast fragen können, welches Geschlecht sie hatte.
Die laszive Hathorpriesterin wirkte plötzlich geschlechtslos: eine interessante, ironische Wendung.
Wenaton rollte die Schriftrolle ein und leerte seinen Bierkrug in einem Zug. »Aii, na, wollt ihr das Neueste hören?«
RaEm nickte und lächelte ihn an. Ob der kleine Mann wohl begriff, dass sie sogar mit ihm ins Bett steigen würde, um seine Neuigkeiten zu erfahren? Cheftu lehnte sich mit einem Becher Bier zurück und hörte zu.
»Es fliegen dichte und flinke Gerüchte durchs Land, dass Echnaton nach seinem Cousin geschickt hat«, verkündete We-naton.
Cheftu war klar, dass mit der Bezeichnung Cousin jeder gemeint sein konnte, in dessen Adern auch nur ein Tropfen königlichen Blutes floss. Und da die ägyptischen Pharaonen bekanntermaßen ihren Samen generös verteilten, war möglicherweise halb Ägypten ein Cousin Pharaos.
»Wo ist sein Cousin?«, erkundigte sich RaEm.
»An, nun ja, hinter den Katarakten«, antwortete Wenaton mit gesenkter Stimme. »Königin Tiye aus Kush war bereits verheiratet, ehe sie die Gefährtin von Echnatons Vater Amenhotep Osiris wurde. Und Ay ist Tiyes Bruder.«
Cheftu versuchte sich an irgendeinen dieser Namen zu erinnern. Auch Hatschepsuts Vater hatte Amenhotep geheißen, doch es war ein ägyptischer Brauch, dass ein König die Namen von fast allen seinen Vorfahren trug. Jeder Pharao hatte einen Vornamen und einen geheimen Namen und dazu eine ganze Liste von Ahnennamen.
»Ay ist Pharaos Fächerträger.«
Wenaton beugte sich vertraulich vor.
»Tiyes Gemahl in Kushi schenkte ihr ein Kind, ehe erkannt wurde, dass sie das Thronrecht hat.«
Richtig, das königliche Blut Ägyptens wurde in den Adern der Frauen weitergegeben, das war Cheftu bekannt. Selbst wenn Tiye mit einem anderen verheiratet war, entsprach es also der Ma’at, dass sie noch einmal heiratete, um dem Thron zu dienen, falls sie die einzige verbliebene Frau mit königlichem Blut war.
»Sie wurde zu Amenhotep Osiris gebracht und ließ ihr Kind und ihren Gemahl in Kush zurück.«
»Einen Sohn?«, warf RaEm ein.
Wenaton zuckte mit den Achseln. »Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen, deshalb nimmt man an, dass es ein Sohn ist.« Den Rest murmelte
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