Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
er jene Frage stellte, die ihm unter den Nägeln brannte.
»Ist Chloe in Sicherheit?«
»J-E-T-Z-T.«
Jetzt? Hieß das, dass sie es zuvor nicht gewesen war? Oder hieß das, dass sie es bald nicht mehr sein würde?
»Wo ist sie?«
»B-E-I-DA-G-O-N.«
Dagon? Wer war Dagon? Gab es am Hof einen Mann namens Dagon? Handelte es sich um einen Gott? Einen Priester? Ein Land? Ein Schiff?
»Wie komme ich zu ihr?«
»S-I-E-H-N-I-C-H-T-A-U-F-D-E-N-G-Ö-T-Z-E-N.«
Den Götzen? »Was für einen Götzen?«, fragte Cheftu, doch die Steine blieben reglos und stumm liegen. Verärgert und erschöpft steckte er sie wieder ein. Offenbar konnten oder würden sie heute keine weiteren Antworten geben. Er würde es morgen noch einmal probieren.
Auch der folgende Tag brachte keine Antworten oder, genauer gesagt, dieselben Antworten.
Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte es Cheftu durch den Tag. Er fragte Wenaton, ob er jemanden namens Dagon kenne. »Klingt nach einem Ausländer«, meinte Wenaton abweisend. Danach wich er allen Fragen nach RaEm aus.
Cheftu erkannte die Anzeichen: Wenaton war von der zeitreisenden Priesterin bezaubert. Infolgedessen war er nicht länger vertrauenswürdig.
Cheftu verstand das nur zu gut, schließlich hatte sie ihn einst ebenso behext. Damals hatte er sich vor seiner Verantwortung gedrückt, seinen Verstand ausgeschaltet und nur noch auf sein Herz und seine Lust gehört. Wenn RaEm lächelte, war das, als würde sich eine Tür zu jeglichen Spielarten der Lust einen Spalt weit öffnen und den Blick auf alles, was sich ein Mann nur wünschen konnte, freigeben.
Was für ein Narr war er gewesen. Hatschepsut, die ihre Freundin RaEm allzu gut kannte und Mitleid mit Cheftu gehabt hatte - und der es missfiel, wie nachlässig er seinen Pflichten nachkam -, hatte ihn über RaEms wahres Wesen aufzuklären versucht. Doch er hatte die Worte seiner Gebieterin in den Wind geschlagen, bis sein Ego zertrampelt und sein Herz
durchbohrt war und seine Seele gellte: »Du Narr!«
Erst da hatte er auf Hat gehört. »RaEm ist ein Krokodil«, meinte sie. »Ein Krokodil kennt nur die Welt, die es mit eigenen Augen sieht. Es kennt keine Familienbande, ihm liegt auch nichts an der Erhaltung seiner Dynastie. Ihm liegt allein an einem vollen Magen und einem angenehmen Leben; nichts anderes hat irgendeine Bedeutung.« Hat nippte an ihrem goldenen Kelch. »RaEm ist eine hervorragende Priesterin, denn ihre Bedürfnisse stimmen mit denen Hathors absolut überein. Um weiter so angenehm leben zu können, wird sie alles Notwendige unternehmen - sogar töten.«
»Ich wollte es ihr ja angenehm machen«, protestierte Cheftu. »Ich wollte ihr ein Haus bauen, direkt am Nil -«
Er verstummte, denn Hat hatte eine Hand erhoben.
»Unter einem angenehmen Leben versteht RaEm nicht nur, dass ihre fleischlichen Bedürfnisse befriedigt werden, sondern auch, dass sie ständig neue Eroberungen machen kann.«
Cheftu erstarrte. RaEm war mit einer neuen »Eroberung« verschwunden, während ein ganzes Haus voller Gäste darauf gewartet hatte, dass sie Cheftu heiratete.
»Ein Krokodil«, führte Hat weiter aus, »interessiert sich ausschließlich für lebende Beute, für frisches Blut. Nach dem Töten verliert das Krokodil sofort das Interesse. Dann will sie frisches Fleisch.« Hats dunkle Augen blickten in seine. »Ein einziger Mann kann RaEm nie genügen. Sie wird immer verschlingen, so viel sie kann, und dann die Knochen zurücklassen, um sich die nächste, aii, sagen wir, Beute zu suchen.«
Cheftus amour propre hatte einen schweren Schlag abbekommen, noch schlimmer war, dass RaEm nicht einmal eine kleine Pause in ihrem Treiben eingelegt hatte, dass er so unbedeutend für sie war. Dann wurde ihm klar, dass zwar seine Selbstachtung verletzt war, er aber nie mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen war.
»Du hast Glück gehabt, dass du ihr entkommen bist«, tröstete ihn Hat. »Die Götter haben dir zugelächelt.« Sie setzte ihren goldenen Kelch ab und winkte einen Sklaven heran. »Jetzt benimm dich wie ein Mann, ein Adliger Ägyptens, und tu, was deine Lehensherrin von dir verlangt. Vergiss diese Frau!«
Und dann hatte sie ihn an den Hof von Mitanni geschickt, damit er genau das tat.
Jetzt allerdings entdeckte er in Wenatons Augen den gleichen glasigen, überspannten Blick. Jene Miene, die verriet, dass er für ein Lächeln von RaEm einfach alles täte, dass er jede Lüge erzählen und alle Grenzen überschreiten würde. Wie schaffte sie es
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