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Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho

Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho

Titel: Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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gebrauchen. Welcher Wahnsinn hatte Ägypten ergriffen? Man durfte nicht mehr baden, bevor man den Tempel betrat? Oder, was schon überraschend genug war, man ging in den Tempel, statt daheim in aller Stille im Kreis der Familie vor einer persönlichen Gottesstatue zu beten? Ägypten war nie ein Ort kollektiver Gottesdienste gewesen; das hatte es mit allen Kulturen des Altertums gemeinsam. Erschöpft, vergrätzt und mit dem Gefühl, am falschen Ort zu sein, schüttelte Cheftu den Kopf.
    Um nicht jene zu stören, die bereits von den Klauen der Verehrung ergriffen waren, würden sie sich heimlich einschleichen, erklärte ihnen der Wachpriester. Er führte sie eine Treppe hinab in die Dunkelheit. »Ihr geht durch die Tür da hinten und dann die Treppe hinauf«, erklärte er ihnen.
    Wenaton nickte und übernahm die Führung. In der Dunkelheit war es kühl und frisch. Über ihnen bebte der Boden unter den rezitierten Gebeten. Wenaton öffnete eine Tür, und sie
    folgten ihm hinauf, hinaus in den Tempel.
    Die Hitze traf sie wie ein Hammerschlag, denn die Strahlen der Sonne wurden durch die Körperwärme lausender Menschen verstärkt. Sie raubte ihnen den Atem, sie sog ihnen jedes Leben aus.
    Der Saal war leicht so groß wie die Place des Vosges, überlegte Cheftu. Zehntausend Menschen oder mehr standen mit erhobenem Gesicht, aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen da und wiegten sich im Rhythmus des Sprechers.
    Überall waren bereits Menschen auf dem Boden zusammengebrochen. Sie blieben unbeachtet liegen, die Arme immer noch ausgestreckt. Cheftu fiel auf, dass sich einige von ihnen befleckt hatten, doch die Stehenden ignorierten sie; dieses Ägypten erkannte Cheftu nicht wieder.
    Der Mann war böse, war Cheftus erster Gedanke. Echnaton war ein Verbrecher. Die Hälfte der Menschen würde vom In-die-Sonne-Starren erblinden. Ein weiteres Achtel bekäme einen Hitzschlag. Der Rest schien wie unter Drogen zu stehen und vollkommen benommen. Was für ein Regent tat seinem Volk so etwas an? Cheftu musste seinen Zorn mit aller Kraft zügeln.
    Wenaton drängte durch die Menge nach vorn. Der Gestank nach Schweiß, menschlichen Ausscheidungen und Erbrochenem legte sich wie ein Film über sie, vermengt mit dem schweren Myrrhegeruch der ägyptischen Religion.
    Sobald sie eine Stelle gefunden hatten, an der sie bequem stehen konnten, schielte Cheftu durch die Menge, weil er einen Blick auf jenen Wahnsinnigen werfen wollte, dem so wenig an dem Wohlergehen seines Volkes lag.
    Pharao lagerte auf einer goldenen Liege, nur mit einem Schurz und der blauen Krone der Krieger bekleidet. Er hatte Hängeschultern, eingefallene Wangen, einen Fassbauch und von der Sonne schwarz gebrannte Haut. Noch während Cheftu ihn betrachtete, regte sich der König und setzte sich dann auf, als wollte er das Licht umfangen.
    Cheftu erlitt den zweiten Schock.
    Der Mann hatte eine Stimme wie ein Engel! So unförmig sein Körper auch wirkte, so pervers seine Ideologie auch war, seine Stimme war makellos. Befehlend, stark, musikalisch und mit einem so auserlesenen Timbre, dass die einzelnen Worte kaum zu verstehen waren.
    Und als er sie verstand, erlitt Cheftu den dritten und heftigsten Schock: Er kannte diese Worte. Er hatte sie immer wieder gelesen und abgeschrieben:
    »Lobe den Aton, mein ka. Der Aton ist herrlich, er ist schön und prächtig geschmückt. Licht ist sein Kleid, er breitet aus den Himmel wie einen Teppich. Die Pfeiler seines Hauses stehen über den Wassern im Himmel. Er fährt auf den Wolken wie auf einem Wagen, von Blitzen gezogen. Er macht die vier Winde sich zu Boten und Feuerflammen zu seinen Dienern.«
    Cheftu sah, wie sich die Gläubigen um ihn herum im Klang von Echnatons Stimme wiegten, und begriff, weshalb sie gekommen waren. Seine Rede strahlte Charisma, ein Gefühl von Tiefe aus - selbst wenn die Worte gestohlen waren.
    »Das Erdreich hat er auf seinen Boden gegründet, dass es bleibt immer und ewiglich. Mit dem Großen Grün deckte er es wie mit einem Kleide, und die Wasser standen über den Bergen. Aber vor deinem Schatten flohen sie dahin, vor deinem Donnern senkte sich der Fluss ins Tal und ruhet fortan in Fruchtbarkeit am Busen des Roten und des Schwarzen Landes.«

Diese Worte waren nicht für dieses Land geschrieben, in dem Regen, Blitz und Donner äußerst seltene, schon beinahe nicht existente Erscheinungen waren. Und sie waren auch nicht für ein flaches Land ohne Berge, ohne Säulen der Erde geschrieben; und ebenso wenig

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