Frankenstein
geboten, und sein gütiges Lächeln war ihr Lohn.
Sie waren nicht gänzlich glücklich. Der junge Mann und seine Gefährtin zogen sich oft zurück und schienen zu weinen. Ich sah keinen Grund für ihr Leid, doch rührte es mich tief an. Wenn so liebenswürdige Menschen unglücklich waren, war es weniger seltsam, daß ich, ein unvollkommenes und einsames Geschöpf, mich elend fühlte. Aber wieso waren diese edlen Wesen unglücklich? Sie besaßen ein herrliches Haus (denn das war es in meinen Augen) und jeden Luxus. Sie hatten ein Feuer, sich daran zu wärmen, wenn sie froren, und köstliche Speisen, wenn sie Hunger hatten, sie waren in vorzügliche Sachen gekleidet, und, mehr noch, sie konnten gegenseitig ihre Gesellschaft und Rede genießen und wechselten täglich Blicke voll Liebe und Güte. Was bedeuteten ihre Tränen? Drückten diese wirklich Schmerz aus? Anfangs war ich außerstande, diese Fragen zu beantworten. Doch beständige Aufmerksamkeit erklärte mir im Lauf der Zeit viele Erscheinungen, die mir zunächst rätselhaft waren.
Ein recht langer Zeitraum verstrich, ehe ich einen der Gründe für die Verzagtheit dieser liebenswürdigen Familie entdeckte: es war die Armut. Und sie litten in ganz betrüblichem Maße an diesem Übel. Ihre Nahrung bestand fast ausschließlich aus dem Gemüse ihres Gartens und der Milch ihrer einzigen Kuh, die im Winter sehr wenig hergab, wenn ihre Besitzer kaum das Futter zu ihrer Ernährung beschaffen konnten. Ich glaube, sie litten oft nagenden Hunger, besonders die zwei Jüngeren. Denn mehrmals setzten sie dem alten Mann Essen vor, wenn sie für sich nichts behielten.
Dieser selbstlose Zug ergriff mich tief. Bis dahin hatte ich nachts immer einen Teil ihres Vorrats für meinen Verzehr gestohlen. Doch als ich entdeckte, daß ich damit den Häuslern Leid zufügte, ließ ich davon ab und sättigte mich mit Beeren, Nüssen und Wurzeln, die ich in einem nahe gelegenen Wald sammelte.
Ich entdeckte auch noch einen anderen Weg, wie ich ihnen in ihrer mühevollen Arbeit beizustehen vermochte. Ich bemerkte, daß der junge Mann einen großen Teil jeden Tages damit zubrachte, Holz für das Feuer der Familie zu sammeln; und bei Nacht nahm ich oft sein Werkzeug, dessen Gebrauch ich rasch begriff, und schaffte eine für mehrere Tage ausreichende Menge Feuerung heran.
Ich weiß noch, als ich das zum ersten Mal gemacht hatte, wie überrascht die junge Frau erschien, als sie am Morgen die Tür öffnete und einen mächtigen Stoß Holz erblickte. Mit lauter Stimme stieß sie ein paar Worte aus, und der junge Mann trat zu ihr, der ebenfalls Überraschung zeigte. Ich beobachtete erfreut, daß er an diesem Tag nicht in den Wald ging, sondern die Zeit damit verbrachte, die Kate auszubessern und den Garten zu bearbeiten.
Allmählich machte ich eine Entdeckung von noch größerer Wichtigkeit. Ich bemerkte, daß diese Leute eine Methode besaßen, einander ihre Erfahrungen und Gefühle mittels artikulierter Laute mitzuteilen. Ich nahm wahr, daß die Worte, die sie manchmal sprachen, Freude oder Schmerz, Lächeln oder Trauer im Gemüt und Antlitz der Hörer hervorbrachten. Das war in der Tat eine göttliche Wissenschaft, und ich wünschte mir glühend, sie mir anzueignen. Doch meine sämtlichen Bemühungen dahin schlugen fehl. Die Leute sprachen rasch. Und da die Worte, die sie hervorbrachten, keine erkennbare Beziehung zu sichtbaren Gegenständen hatten, vermochte ich keinen Schlüssel zu finden, mit dessen Hilfe ich ihren geheimnisvollen Sinn hätte entwirren können. Doch nachdem ich die Zeitspanne mehrerer Mondumläufe in meinem Stall verbracht hatte, bekam ich unter emsigem Bemühen die Bezeichnung heraus, die sie einigen der häufigsten Gesprächsgegenstände gaben. Ich lernte die Worte Feuer, Milch, Brot und Holz anwenden. Ich erfuhr auch die Namen der Häusler. Der junge Mann und seine Gefährtin hatten jeweils mehrere Namen, aber der Alte hatte nur einen, der Vater lautete. Das Mädchen hieß Schwester oder Agathe; und der junge Mann Felix, Bruder oder Sohn. Ich kann nicht beschreiben, welche Begeisterung ich empfand, als ich die zu jedem dieser Laute gehörenden Begriffe entdeckte und sie auszusprechen vermochte. Ich unterschied noch etliche Wörter, ohne sie bislang verstehen oder anwenden zu können, wie gut, liebstes, unglücklich.
Auf diese Weise verbrachte ich den Winter. Das freundliche Wesen und die Schönheit der Häusler nahmen mich herzlich für sie ein. Wenn sie unglücklich
Weitere Kostenlose Bücher