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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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erst aufmerksam, als sie vernehmlich schluchzte. Da sprach er ein paar Laute, und das schöne Mädchen legte ihre Arbeit hin und kniete zu seinen Füßen nieder. Er hob sie auf und lächelte mit solcher Güte und Liebe, daß ich Gefühle von eigentümlicher und überwältigender Art empfand: sie waren ein Gemisch aus Schmerz und Freude, wie ich es nie zuvor gespürt hatte, nicht infolge Hunger oder Kälte, Wärme oder Nahrung. Und ich zog mich vom Fenster zurück, außerstande, diese Regungen zu ertragen.
    Bald darauf kam der junge Mann zurück, eine Last Holz auf den Schultern. Das Mädchen ging ihm an die Tür entgegen, half ihm die Last abzulegen, trug etwas Holz in die Kate und legte es aufs Feuer. Dann zogen sie und der junge Mann sich in die Kate zurück, und er zeigte ihr einen großen Laib Brot und ein Stück Käse. Sie wirkte erfreut und holte Wurzeln und Pflanzen aus dem Garten, die sie in Wasser legte und dann aufs Feuer stellte. Danach setzte sie ihre Arbeit fort, während der junge Mann in den Garten ging und fleißig damit beschäftigt zu sein schien, Wurzeln auszugraben und aus dem Boden zu ziehen. Nachdem er sich eine Stunde lang so betätigt hatte, gesellte sich die junge Frau zu ihm, und sie gingen zusammen in die Kate.
Der alte Mann war inzwischen in ernste Gedanken versunken gewesen, doch als seine Gefährten erschienen, setzte er eine heitere Miene auf, und sie setzten sich zu Tisch. Die Mahlzeit war rasch verzehrt. Die junge Frau war wieder damit beschäftigt, die Kate aufzuräumen. Der Alte schritt, auf den Arm des jungen Mannes gestützt, ein paar Minuten lang im Sonnenschein vor der Kate auf und ab. Nichts konnte den Gegensatz zwischen diesen zwei einnehmenden Menschen an Schönheit übertreffen. Der eine war alt, mit Silberhaar und einem Antlitz, das vor Güte und Liebe strahlte. Der jüngere war schlank und geschmeidig von Gestalt, und seine Züge waren mit feinster Regelmäßigkeit gebildet, doch seine Augen und seine Haltung sprachen von äußerster Traurigkeit und Verzweiflung. Der alte Mann kehrte in die Kate zurück, und der junge schlug mit anderem Werkzeug, als er es am Vormittag benutzt hatte, den Weg über die Felder ein.
    Rasch brach die Nacht herein. Doch zu meiner äußersten Verwunderung entdeckte ich, daß die Häusler über ein Mittel verfügten, die Helligkeit zu verlängern, indem sie Kerzen benutzten, und ich bemerkte erfreut, daß der Sonnenuntergang dem Vergnügen kein Ende setzte, das ich bei der Beobachtung meiner Nachbarn empfand. Am Abend gaben sich das junge Mädchen und ihr Gefährte verschiedenen Beschäftigungen hin, die ich nicht verstand. Der alte Mann nahm wieder, das Instrument auf, das die himmlischen Töne hervorbrachte, die mich am Vormittag entzückt hatten. Sobald er geendet hatte, begann der junge Marin, nicht zu spielen, sondern eintönige Laute hervorzubringen, die weder der Harmonie des Instruments des Alten noch dem Gesang der Vögel glichen: inzwischen habe ich begriffen, daß er vorlas, aber damals wußte ich nichts von der Wissenschaft der Worte oder Buchstaben.
    Nachdem die Familie sich kurze Zeit so beschäftigt hatte, löschten sie das Licht und zogen sich, wie ich vermutete, zum Schlafen zurück.

Zwölftes Kapitel
    Ich lag auf meinem Stroh, konnte aber nicht schlafen. Ich überdachte die Vorfälle des Tages. Was mich vor allem beeindruckte, war das freundliche Wesen dieser Leute. Ich verlangte danach, mich ihnen anzuschließen, wagte es jedoch nicht. Zu gut erinnerte ich mich an die Behandlung, die ich am Abend vorher bei den barbarischen Dörflern erlitten hatte, und beschloß, welches Vorgehen ich später auch für richtig halten mochte, vorläufig still beobachtend in meinem Stall zu bleiben und zu versuchen, ihre Beweggründe und deren Einfluß auf ihre Handlungen herauszufinden.
    Am nächsten Morgen standen die Häusler vor der Sonne auf. Die junge Frau räumte die Kate auf und bereitete das Essen zu, der junge Mann ging nach der ersten Mahlzeit fort.
    Dieser Tag nahm den gleichen Verlauf wie der vorige. Der junge Mann war ständig im Freien beschäftigt und das Mädchen mit verschiedenen mühseligen Aufgaben im Haus. Der alte Mann, der, wie ich bald bemerkte, blind war, widmete seine Mußestunden dem Instrument oder seinen Gedanken. Nichts konnte die Liebe und Achtung übertreffen; die die jüngeren Häusler ihrem ehrwürdigen Gefährten entgegenbrachten. Sie erwiesen ihm mit Freundlichkeit jeden kleinen Dienst, den Liebe oder Pflicht

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