Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
zupfte Deucalion flink die Schläuche für die Sauerstoffzufuhr aus den übrigen vier Glaszylindern und bereitete der Gefangenschaft und dem Dasein der anderen körperlosen Alphagehirne, worin auch immer ihre Funktion bestanden haben mochte, ein gnädiges Ende.
Lester, der Epsilon von der Putzkolonne, der ihn aus dem Zentrallabor hierherbegleitet hatte, sah ihm mit unverkennbarer Sehnsucht zu.
Bei der Programmierung der Angehörigen der Neuen Rasse war eine Selbstmordsperre eingebaut worden. Sie waren nicht in der Lage, sich selbst oder einander zu töten, ebenso wenig, wie es ihnen möglich war, die Hand gegen ihren Schöpfer zu erheben.
Lester fing Deucalions Blick auf und sagte: »Ihnen ist es nicht verboten?«
»Nur, die Hand gegen meinen Schöpfer zu erheben.«
»Aber … Sie sind doch einer wie wir.«
»Nein. Ich kam lange vor euch allen. Ich bin sein Erster.«
Lester dachte darüber nach und blickte dann zu dem leeren Bildschirm, auf dem gerade noch Annunciata gewesen war. Wie eine Kuh, die wiederkäut, verarbeitete sein Gehirn der Epsilonklasse das bisher Gesagte.
»Tot und lebendig«, sagte er.
»Ich werde ihn zerstören«, versprach ihm Deucalion.
»Wie wird die Welt aussehen … ohne Vater?«, fragte sich Lester verwundert.
»Ich weiß nicht, wie sie für dich aussehen wird. Für mich … wird es eine Welt sein, die nicht hell, aber heller ist, nicht rein, aber reiner.«
Lester hob seine Hände und starrte sie an. »Manchmal, wenn es keine Arbeit für mich gibt, kratze ich mich, bis ich blute, und dann sehe ich meinen Wunden beim Heilen zu, und dann kratze ich mich wieder, bis ich blute.«
»Warum?«
Lester zuckte die Achseln und sagte: »Was kann man denn sonst schon tun? Mein Job ist ich. Das ist das Programm. Wenn ich Blut sehe, denke ich an die Revolution, an den Tag, an dem wir sie alle töten dürfen, und dann fühle
ich mich wohler.« Er zog die Stirn in Falten. »Es kann keine Welt ohne Vater geben.«
»Vor seiner Geburt«, sagte Deucalion, »gab es eine Welt. Sie wird ohne ihn weitergehen.«
Lester dachte darüber nach, doch dann schüttelte er den Kopf. »Eine Welt ohne Vater jagt mir Angst ein. Ich will sie nicht sehen.«
»Wenn du diese Welt nicht sehen willst, dann wirst du sie nicht sehen.«
»Das Problem ist … dass ich, wie wir alle, stark bin.«
»Ich bin stärker«, versicherte ihm Deucalion.
»Das Problem ist, dass ich obendrein schnell bin.«
»Ich bin schneller.« Deucalion trat einen Schritt von Lester zurück und gelangte dabei durch einen Quantentrick nicht weiter von ihm fort, sondern näher an ihn heran, doch er stand nicht mehr vor ihm, sondern hinter ihm.
Aus Lesters Perspektive war Deucalion verschwunden. Verblüfft trat Lester einen Schritt vor.
Hinter Lesters Rücken trat auch Deucalion einen Schritt vor, schlang ihm den rechten Arm um den Hals und den linken Arm um den Kopf. Als Lester mit seinen starken Händen den Todesgriff zu lockern versuchte, riss Deucalion seinen Kopf mit einer solchen Wucht herum, dass die Wirbelsäule des Epsilons zertrümmert wurde. Ein sofortiger Hirntod kam jeder Heilung, ob rasch oder nicht, zuvor.
Deucalion ließ Lester langsam auf den Boden sinken. Er kniete sich neben die Leiche. Beide Herzen hatten aufgehört zu schlagen. Lesters Blick folgte der Hand seines Henkers nicht, und seine Lider leisteten den Fingern, die sie zärtlich schlossen, keinen Widerstand.
»Nicht tot und lebendig«, sagte Deucalion. »Du bist jetzt nur noch tot und in Sicherheit … jenseits der Verzweiflung und dem Zorn deines Schöpfers entzogen.«
Deucalion erhob sich im unterirdischen Networkingroom aus seiner knienden Haltung und erreichte seine volle Größe an Victors u-förmigem Computerarbeitsplatz im Zentrallabor, wo seine Suche erst durch Lester und dann durch Annunciata unterbrochen worden war.
Erst am Abend hatte er von Pastor Kenny Laffite, einem der Geschöpfe Victors, dessen Programmierung zusammengebrochen war, erfahren, dass sich mindestens zweitausend Angehörige der Neuen Rasse als gewöhnliche Bürger der Stadt ausgaben. Pastor Kenny, der jetzt wie Lester seinen Frieden gefunden hatte, hatte auch gesagt, die Schöpfungstanks in den Händen der Barmherzigkeit könnten alle vier Monate eine neue Ernte seiner Gattung hervorbringen, mehr als dreihundert Exemplare pro Jahr.
Noch wichtiger war Kennys Enthüllung, dass irgendwo außerhalb der Stadt eine Zuchtfarm für die Neue Rasse innerhalb der nächsten Woche ihren Betrieb
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