Frankenstein oder Der moderne Prometheus
einigermaßen wohltuend für mich. Der Umstand,
daß die Stadttore allnächtlich um zehn Uhr geschlossen wurden und
die Unmöglichkeit, mich nach dieserStunde noch
am See aufzuhalten, hatten mir den Aufenthalt in Genf sehr
verleidet. Nun war ich frei. Oftmals, wenn sich die Familie zur
Nachtruhe begeben hatte, bestieg ich ein Boot und verbrachte noch
manche Stunde auf dem Wasser. Manchmal hißte ich die Segel und ließ
mich vom Winde über die Flut tragen; manchmal ruderte ich mich weit
hinaus und ließ dann das Boot treiben, um mich meinen trostlosen
Gedanken ungestört hingeben zu können. Ich war oft versucht, wenn
es so friedlich rund um mich her war und ich das einzige ruhelose
Geschöpf – die Fledermäuse ausgenommen, die über meinem Kopfe
hinweghuschten, oder die Frösche, die am Ufer ihr rauhes,
unharmonisches Konzert ertönen ließen – ich war versucht, sage ich,
mich in die dunkle Flut gleiten zu lassen, damit sie sich über mir
und meinem Elend schlösse auf alle Zeit. Aber der Gedanke an meine
tapfere Elisabeth, die ich zärtlich liebte und deren Existenz mit
der meinen so eng verknüpft war, hielt mich vor diesem Äußersten
zurück. Ich gedachte auch meines Vaters und meines Bruders. Sollte
ich als feiger Deserteur sie ungeschützt den Angriffen des
tückischen Feindes überlassen, den ich selbst geschaffen?
In solchen Augenblicken weinte ich bitterlich und flehte zu
Gott, das er wieder Friede in meine Seele senke, damit ich meinen
Lieben ein Trost und eine Stütze sein könnte. Aber es war
vergebens. Meine Gewissensbisse waren stärker als alles Hoffen. Ich
war der Urheber all dieses Leides und lebte in steter Furcht, daß
das Ungeheuer, dem ich das Leben gegeben, irgend eine neue
Grausamkeit verüben könnte. Ich hatte ein dunkles Gefühl, daß noch
lange nicht alles vorüber war und daß mein Feind ein Verbrechen im
Schilde führe, dessen Schrecklichkeit die Erinnerung an das schon
begangene verblassen lassen müßte. So lange ich noch jemand besaß,
den ich lieb hatte, war Ursache zur Sorge vorhanden. Mein Haß gegen
das Scheusal kannte keine Grenzen. Wenn ich nur daran dachte,
kochte es in mir und meine Zähne knirschten, meine Augen brannten
und mein ganzes Innere lechzte danach, dieses Leben zu vernichten,
das ich gedankenlos geschaffen. Wenn ich an das grausame, boshafte
Wesen dachte, steigerte sich mein Haß und
mein Rachedurst ins Ungemessene. Hätte ich doch eine Wanderung auf
die höchsten Schroffen der Anden nicht gescheut, wenn ich es dort
hätte antreffen und in die tiefsten Abgründe hätte schleudern
können. Ich dürstete danach mit ihm zusammenzutreffen, um Rache zu
nehmen für den Tod Wilhelms und Justines.
Unser Haus war ein wirkliches Trauerhaus. Mein Vater war
gänzlich gebrochen von all den schrecklichen Ereignissen. Elisabeth
war traurig und still. Sie hatte keine Freude mehr an ihren
Pflichten; jeder frohe Augenblick schien ihr ein Sacrileg gegen das
Andenken der Toten. Sie war nicht mehr das heitere Mädchen, das
einst mit mir an den Gestaden des Sees hingewandert war und selige
Zukunftsträume mit mir spann. Der erste von jenen
Schicksalsschlägen, die uns allmählich der Erdenfreude unzugänglich
machen, hatte sie getroffen und nahm ihr das Lächeln von ihrem
Antlitz.
»Wenn ich an den Tod von Justine Moritz denke, Liebster,« sagte
sie, »sehe ich die Welt und was in ihr ist mit ganz anderen Augen
an als früher. Wenn ich ehemals in den Zeitungen von Verbrechen und
Schlechtigkeiten las oder wenn mir davon erzählt wurde, war es mir,
als seien das Phantasiegebilde oder Märchen aus vergangenen Zeiten.
Wenigstens lagen sie mir fern und gaben mehr dem Nachdenken als dem
Gefühl zu schaffen. Aber heute hat uns das Elend selbst heimgesucht
und die Menschen erscheinen mir wie Bestien, die nach dem Blute der
Anderen dürsten. Sicherlich bin ich hierin ungerecht! Jedermann
hielt das arme Mädchen für schuldig, und wenn sie imstande gewesen
wäre, das furchtbare Verbrechen zu begehen, wegen dessen sie leiden
und sterben mußte, dann wäre sie die verruchteste aller Kreaturen
gewesen. Um einiger glänzender Steine willen den Sohn ihres
Freundes und Wohltäters zu morden, ein Kind, das sie von seiner
Geburt an kannte und liebte wie ein eigenes! Ich könnte zum Tode
eines Menschen nicht meine Zustimmung geben, und dennoch muß ich
mir sagen, daß ein Geschöpf, das eines solchen Verbrechens fähig
ist, nicht länger ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft bleiben darf.
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