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Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Shelley
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allgemeinen Bauern und Bauernmägde zu sein pflegen.
Sie war einfach gekleidet, ein weiter, blauer Rock und eine
Leinenjacke bildeten ihren Anzug; ihr schönes Haar lag geflochten
um ihren Kopf und sie sah still und traurig aus. Sie kam dann außer
Sicht. Nach etwa einer Viertelstunde kam sie wieder mit ihrem
Kübel, der nun zum Teil mit Milch gefüllt war. Während sie das
schwere Gefäß dem Hause zutrug, kam ein junger Mann auf sie zu, der
noch trauriger aussah als sie. Er sagte einiges zu ihr und nahm ihr
dann den Kübel vom Kopfe, um ihn selbst zum Hause zu bringen. Sie
folgte ihm und beide verschwanden in der Tür. Kurze Zeit darauf
erschien der junge Mann wieder und ging, einige Werkzeuge auf der
Schulter, quer über die angrenzenden Felder. Das Mädchen
beschäftigte sich abwechselnd im Hause und im Garten.
    In der Wand des Hauses, an die sich mein neues Heim anlehnte,
befand sich, wie ich bei der Untersuchung derselben feststellte,
ein Fenster, das mit Holz verschalt war und durch einen ganz
schmalen Spalt einen Blick in das Innere gestattete. Ich konnte ein
kleines, reinliches, aber armselig möbliertes Zimmer erkennen. In
einem Winkel, nahe am Feuer, saß ein alter Mann, der wie im Kummer
sein Gesicht in den Händen barg. Das Mädchen war damit beschäftigt,
das Zimmer in Ordnung zu bringen. Plötzlich zog sie etwas aus einer
Schublade und gab es dem alten Manne, indem sie sich neben ihm
niederließ. Es war ein Instrument, dem er Töne entlockte, die mich
mehr entzückten als der Gesang der Drossel oder der Nachtigall. Es
war für mich armes Wesen, das ja noch nie etwas Schönes gesehen,
ein lieblicher Anblick. Das Silberhaar des Greises und sein gutes
Gesicht ließen mich Ehrfurcht empfinden, während das Verhalten des
Mädchens mir Liebe einflößte. Die Weise, die der Alte spielte,
lockte Tränen in die Augen des lieblichen
Kindes; er achtete ihrer aber nicht. Erst als sie laut aufweinte,
sprach er einige Worte zu ihr. Sie kniete dann zu seinen Füßen
nieder und er streichelte sie zärtlich. Ich kann die Gefühle nicht
beschreiben, die ich dabei empfand. Sie waren ein Gemisch von Lust
und Schmerz, wie ich es noch nie kennen gelernt hatte, so ganz
anders als Hunger oder Durst, Kälte oder Hitze. Jedenfalls waren
sie seltsam und überwältigend, so daß ich mich vom Fenster
zurückziehen mußte.
    Bald darauf kam der junge Mann nach Hause, auf dem Rücken eine
große Ladung Holz. Das Mädchen ging ihm entgegen, half ihm seine
Bürde abnehmen und legte einen Teil des Holzes ins Feuer. Dann
gingen sie zusammen in eine Ecke des Zimmers und er zeigte ihr
einen großen Laib Brot und ein Stück Käse. Sie schien darüber
erfreut und begab sich in den Garten, um einige Wurzeln und Kräuter
zu holen. Diese legte sie dann in Wasser und stellte dieses auf das
Feuer. Während sie in dieser Weise beschäftigt war, ging der junge
Mensch in den Garten hinaus und grub dort eifrig Wurzeln aus.
Längere Zeit war vergangen, da kam das junge Mädchen und ging mit
ihm wieder zurück ins Haus.
    Der alte Mann war unterdessen nachdenklich dagesessen; als aber
seine Hausgenossen eintraten, ward seine Miene wieder fröhlicher
und sie setzten sich alle miteinander an den Tisch, um zu essen.
Die Mahlzeit war bald zu Ende. Während das Mädchen das Zimmer in
Ordnung brachte, ging der Greis, auf den jungen Mann gestützt, im
Sonnenschein spazieren. Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen
den beiden Menschen. Der Alte im Silberhaar mit seinen guten,
liebenvollen Zügen, der Junge, hoch und schlank gewachsen, mit
seinem feinen, ebenmäßigen Gesicht. Seine Augen allerdings und
seine Haltung ließen erkennen, daß er sehr traurig und
niedergeschlagen war. Der Greis kehrte dann in sein Haus zurück,
während der Jüngling mit Werkzeug es war anderes als das, das er
morgen getragen – sich auf die Felder begab.
    Rasch brach die Nacht herein; aber zu meinem Erstaunen
bemerkte ich, daß die Bewohner des Hauses
ein Mittel besaßen, das Licht des Tages zu ersetzten, indem sie
Wachskerzen anzündeten. Auch machte es mir große Freude, denn nun
konnte ich die Leute länger aus meinem Schlupfwinkel beobachten.
Der Alte nahm wieder sein Instrument zur Hand, dessen Töne mich
schon am Morgen so entzückt hatten. Als er geendet hatte, geschah
etwas, was ich nicht begriff. Der junge Mensch wiederholte in
einemfort monotone Laute, die es an Schönheit und Harmonie weder
mit der Musik des Greises noch mit dem Gesang der Vögel aufnehmen
konnten.

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