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Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Shelley
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Später kam ich darauf, daß er laut vorlas, aber damals
hatte ich noch keine Ahnung von dem Geheimnis der Buchstaben und
Worte.
    Die Familie blieb noch einige Zeit beisammen, dann löschte der
Alte das Licht und sie begaben sich, wie ich vermutete, zur
Ruhe.

Kapitel 12
     
    Ich lag auf meinem Stroh, konnte aber nicht schlafen. Ich mußte
über das nachdenken, was ich den Tag über gesehen und gehört hatte.
Das, was mir besonders zu denken gab, waren die liebenswürdigen
Manieren dieser Leute. Ich sehnte mich danach, mit ihnen in
Verbindung zu treten, aber ich wagte es nicht. Nicht umsonst
erinnerte ich mich der barbarischen Behandlung, die mir in der
vergangenen Nacht von Seite der Dorfbewohner zuteil geworden war.
Zunächst beschloß ich, in meinem Schuppen zu bleiben und sie noch
genauer zu beobachten.
    Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, waren die Leute
schon munter. Das Mädchen brachte wieder das Haus in Ordnung und
bereitete eine Mahlzeit. Nachdem diese eingenommen war, ging der
Jüngling fort.
    Der Tag spielte sich in derselben Weise ab wie der
vorhergehende. Der Jüngling war die meiste Zeit außerhalb des
Hauses beschäftigt, während das Mädchen sich innerhalb desselben
zu schaffen machte. Der Alte, der, wie ich
bemerkte, blind war, verbrachte seine Zeit, indem er auf seinem
Instrument spielte oder nachdenklich im Zimmer saß. Es war schön
anzusehen, welche Liebe und Verehrung die jungen Menschen dem
Greise zuteil werden ließen. Sie pflegten ihn mit zarter Hingabe
und wurden durch sein gütiges Lächeln belohnt.
    Ganz glücklich schienen sie jedoch nicht zu sein, denn öfter sah
ich die beiden jungen Leute weinen. Ich konnte es mir nicht
erklären, jedenfalls aber empfand ich tiefes Mitleid mit ihnen.
Wenn schon solche Geschöpfe unglücklich waren, ist es nicht
verwunderlich, daß ich, der ich einsam und häßlich war, noch viel
mehr litt. Aber warum waren sie unglücklich? Sie besaßen ein
herrliches Haus (wenigstens schien es mir herrlich) und alles, was
sie bedurften. Sie hatten Feuer, um sich daran zu wärmen, wenn sie
froren, und köstliche Speisen, wenn sie Hunger hatten. Sie waren
schön gekleidet, und was noch besser ist als alles andere, sie
waren nicht allein, sondern freuten sich gegenseitig ihrer
Gesellschaft. Was hatten also ihre Tränen zu bedeuten? Waren sie
wirklich der Ausdruck des Leides? Zuerst war ich nicht imstande,
mir diese Fragen zu beantworten, aber mit der Zeit ward mir
verschiedenes klar, was mir bisher rätselhaft gewesen.
    Es bedurfte langer Zeit, ehe ich eine der Hauptursachen ihres
Kummers begriff. Es war die Armut, unter der sie in schrecklicher
Weise zu leiden hatten. Ihre Nahrung bestand fast nur aus den
Kräutern, die ihnen der Garten lieferte, und der Milch ihrer
einzigen Kuh, für die sie im Winter kaum genügend Futter
herbeizuschaffen vermochten. Ich glaube, daß die beiden jungen
Menschen oft vom Hunger gequält wurden, denn ich bemerkte mehrmals,
daß sie dem Greise Nahrung vorsetzten, ohne für sich selbst etwas
übrig zu behalten.
    Dieser Zug von Güte rührte mich. Ich hatte bisher in der Nacht
einen Teil ihrer Nahrungsmittel für meinen Gebrauch gestohlen.
Nachdem ich aber wußte, daß ich den guten Menschen damit wehe tat,
verzichtete ich darauf und holte mir in einem benachbarten Gehölz
Beeren, Nüsse und Wurzeln.
    Ich entdeckte auch ein Mittel, ihnen bei
ihrer Arbeit behülflich zu sein. Ich hatte beobachtet, daß der
junge Mensch einen großen Teil des Tages darauf verwendete, Holz
für den heimatlichen Herd zu sammeln. Ich nahm daher in der Nacht
sein Werkzeug an mich, dessen Gebrauch ich rasch erlernte, und
brachte Heizmaterial mit nach Hause, das für mehrere Tage
ausreichte.
    Ich erinnere mich, wie das Mädchen erstaunte, als sie eines
Morgens, vor die Haustüre tretend, einen großen Haufen Holz
aufgeschichtet vor sich sah. Sie schrie laut auf, und als der
Jüngling herbeikam, äußerten sie offenbar ihr Erstaunen. Ich
bemerkte mit Genugtuung, daß er es an diesem Tage unterließ, in den
Wald zu gehen, sondern sich im Hause und im Garten
beschäftigte.
    Nach und nach machte ich aber eine Entdeckung, die für mich von
ungeheurer Wichtigkeit war. Ich bemerkte nämlich, daß diese Wesen
eine Methode besaßen, sich gegenseitig ihre Gefühle in
artikulierten Lauten auszudrücken und daß die Worte, die sie
sprachen, bald Leid, bald Freude, bald Frohsinn, bald Schmerz im
Zuhörer hervorzurufen vermochten, wie man an ihren Mienen

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