Frankenstein oder Der moderne Prometheus
ergriffen?
Noch heute denke ich mit Entsetzen und Verzweiflung an diesen
Augenblick. Das Verhör, die Anwesenheit des Bürgermeisters und der
Zeugen war mir wie ein Traum, als ich da vor mir den leblosen
Körper Clervals liegen sah. Ich rang nach Atem und warf mich
schluchzend über den Leichnam. »Hat mein Wahnwitz nun auch dir das
Leben gekostet, mein liebster Henry? Zwei fielen dem Würger schon
zum Opfer und der anderen wartet noch ihr grauenhaftes Schicksal;
aber du, mein Freund, mein Wohltäter … «
Ich konnte das Leid nicht mehr ertragen und brach zusammen.
Ein heftiges Fieber war die Folge dieser
tiefen Erregung. Zwei Monate lag ich zwischen Leben und Tod, und
meine Fieberrasereien waren, wie man mir nachher erzählte,
schrecklich. Ich beschuldigte mich selbst, Wilhelm und Justine und
Clerval hingemordet zu haben. Ich flehte meine Wärter an, mir bei
der Vernichtung des Dämons, der mich verfolgte, behülflich zu sein.
Dann fühlte ich wieder den harten Griff des Ungeheuers an meinem
Halse und brüllte in wahnsinniger Todesangst. Herr Kirwin war der
einzige, der meine Muttersprache und damit auch das verstand, was
ich in meinen Fieberphantasien sprach; die anderen mochten schon an
meinen Krämpfen und meinem Geschrei genug haben.
Warum konnte ich nicht sterben? Elender als ich war nie ein
Menschenkind gewesen. Warum ward mir nicht Vergessenheit und Ruhe
zuteil? Welche ungeheure Widerstandskraft mußte ich haben, um all
das ertragen zu können, mit dem mich das Schicksal bedachte?
Aber ich war verdammt weiterzuleben und zwei Monate später
erwachte ich zum Bewußtsein. Ich fand mich auf einem schlechten
Bett liegend; das Fenster war stark vergittert, die Türen doppelt
und dreifach verriegelt und um mich brütete das trostlose
Halbdunkel einer Kerkerzelle. Es war Morgen, wenn ich mich recht
erinnere. Ich hatte all die traurigen Ereignisse vergessen; aber
als ich mich umsah, kam mir alles wieder ins Gedächtnis und ich
weinte bitterlich.
Das Geräusch weckte eine alte Frau, die neben meinem Bette in
einem Schaukelstuhl geschlafen hatte. Es war eine Wärterin, die
Frau eines der Aufseher, und ihr Gesicht wies unverkennbar die
charakteristischen Züge dieser Menschenklasse auf. Es war hart und
roh, wie abgestumpft von dem immerwährenden Anblick des Elendes. In
gleichgültigem Tone sprach sie mich auf englisch an, und mir war,
als hätte ich diese Stimme während meiner Krankheit schon öfter
gehört.
»Sind Sie wieder gesund, Herr?«
Ich antwortete mit schwacher Stimme: »Ich glaube, ich bin
es. Aber wenn das, was mich umgibt,
Wirklichkeit ist und kein böser Traum, dann wäre es mir bei Gott
lieber, ich wäre nicht mehr zum Dasein erwacht.«
»Allerdings,« sagte die Alte, »glaube ich auch, daß es besser
wäre, Sie wären abgefahren; denn es wird Ihnen nicht gut gehen.
Aber das geht mich ja nichts an. Ich bin als Pflegerin Ihnen
zugewiesen und habe mein Möglichstes für Sie getan. Ich habe ein
gutes Gewissen. Wenn nur Jeder ein solches hätte.«
Ich wandte mich empört von der Frau ab, die mit einem kaum dem
Tode entronnenen Menschen so herzlos sprechen konnte. Ich fühlte
mich schwach und niedergeschlagen und konnte mich nicht aufraffen,
über das Geschehene nachzudenken. Mein ganzes Leben war wie mit
einem Schleier bedeckt, so daß ich nicht glauben konnte, es sei
Wirklichkeit.
Als ich dann imstande war, mir Rechenschaft abzulegen, wurde ich
unruhig. Die Dunkelheit bedrückte mich. Niemand war da, der mir die
Hand gedrückt oder ein liebevolles Wort mit mir gesprochen hätte.
Der Arzt kam und verschrieb mir etwas, das die Wärterin
zubereitete. Jener trug die äußerste Gleichgültigkeit gegen mich
zur Schau, während das brutale Gesicht der letzteren Verachtung zum
Ausdruck brachte. Wer konnte auch ein Interesse am Leben eines
Mörders haben als der Henker, der seines Lohnes nicht verlustig
gehen wollte?
Das waren meine Gedanken. Aber bald bemerkte ich, daß Herr
Kirwin wirklich gütig, fast väterlich für mich gesorgt hatte. Er
hatte den besten Raum im ganzen Gefängnis – er war ja auch noch
armselig genug – für mich herrichten lassen und mich in die Obhut
eines Arztes und einer Wärterin gegeben. Er kam allerdings selten
zu mir; denn wenn es auch sein Bestreben war, die Leiden der
Menschen zu lindern, so scheute er sich doch, den Rasereien eines
wahnsinnigen Mörders zuzuhören. Er sah ja oft nach, ob ich nicht
vernachlässigt würde; aber mich selbst besuchte er nur kurz und
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