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Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Shelley
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in
langen Zwischenräumen.
    Es war unterdessen etwas besser mit mir geworden. Ich saß in
einem Lehnstuhl, die Augen halb geschlossen und mit
totenfarbenem Gesicht. Tiefste
Niedergeschlagenheit hatte sich meiner bemächtigt und ich überlegte
mir öfter, ob es nicht besser sei, den Tod zu suchen, als sich an
ein Leben anzuklammern, das mir doch nur mehr unermeßliches Leid zu
geben hatte. Ich hatte weiter nichts zu tun, als mich schuldig zu
bekennen, um, unschuldiger noch als damals Justine, dem Gesetz zu
verfallen. Das waren meine Gedanken, als sich die Türe meiner Zelle
öffnete und Herr Kirwin eintrat. Sein Gesicht drückte Mitleid und
Güte aus. Er zog einen Stuhl neben den meinen und begann auf
Französisch:
    »Ich glaube, Ihr Aufenthalt schadet Ihnen. Kann ich etwas für
Ihre Bequemlichkeit tun?«
    »Ich danke Ihnen. Aber es hat ja doch keinen Zweck für mich, wie
sollte ich mich auf Erden je noch wohl fühlen können?«
    »Ich weiß, daß das Mitleid eines anderen Ihnen nur wenig
Erleichterung bringen kann, nachdem Sie ein seltsames Geschick so
tief niedergebeugt hat. Aber ich hoffe, daß Ihr Gemüt bald wieder
froher sein wird, denn es liegen unzweideutige Anzeichen vor, daß
Sie von der Schuld freigesprochen werden müssen.«
    »Das ist meine geringste Sorge! Ich bin einmal durch eine Reihe
ungewöhnlicher, schrecklicher Ereignisse zum elendesten Menschen
geworden. Wem das Leben so mitgespielt, dem kann der Tod nichts
Fürchterliches mehr bedeuten.«
    »Ich gebe zu, daß es nichts Schlimmeres geben kann als dieses
seltsame Zusammentreffen von allerlei Umständen, die Sie aufregen
und betrüben mußten. Erst trägt Sie ein merkwürdiger Zufall an eine
Küste, deren Bewohner sonst weit und breit wegen ihrer
Gastfreundlichkeit bekannt sind; man ergreift Sie und legt Ihnen
einen Mord zur Last. Der erste Anblick, der sich Ihnen bietet, ist
der Leichnam Ihres Freundes, der in so unbegreiflicher Weise
ermordet wurde und den eine unbekannte Hand gerade dahingelegt
haben muß, wo Sie landeten.«
    Bei all der Erregung, die ich empfand, als mir Herr Kirwin
nochmals das Geschehene aufführte, fiel es mir doch auf, daß er so
genau über mich informiert war. Er mochte mir diesen
Gedanken vielleicht vom Gesicht abgelesen
haben, denn er fügte eilig hinzu:
    »Kurz nachdem Sie erkrankt waren, brachte man mir Ihre Papiere.
Ich suchte darin nach Angaben über Ihre Familie, damit ich diese
von Ihrem Mißgeschick und Ihrer Erkrankung benachrichtigen könnte.
Ich fand auch einige Briefe, aus deren Anrede ich entnahm, daß sie
von Ihrem Vater geschrieben waren. Ich schrieb sofort nach Genf –
es sind nun fast zwei Monate. Aber Sie sind noch krank und zittern;
ich darf Ihnen also keine Aufregung bereiten.«
    »Die Ungewißheit ist viel schlimmer als die grausamste
Wirklichkeit. Erzählen Sie mir, wer ermordet wurde, wessen Tod
ich 
nun
 zu beweinen habe.«
    »Ihre ganze Familie ist wohlauf,« sagte Herr Kirwin gütig, »und
es ist jemand da, Sie zu besuchen.«
    Ich weiß nicht wie es kam, aber ich glaubte, daß mein Dämon da
sei, um sich über mein Unglück zu freuen und mir Clervals Tod
vorzuhalten; vielleicht in der Hoffnung, daß ich seinen satanischem
Wünschen nun entsprechen werde. Ich legte deshalb die Hand vor die
Augen und schrie in furchtbarer Todesangst:
    »O schaffen Sie ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen; um Gottes
willen lassen Sie ihn nicht herein!«
    Herr Kirwin sah mich bekümmert an. Er schien diesen
Gefühlsausbruch für einen Beweis meiner Schuld zu halten und sagte
in ernstem Tone:
    »Ich hätte gedacht, junger Mann, daß Ihnen Ihr Vater sehr
willkommen sein müßte; Sie aber weigern sich so heftig, ihn zu
sehen?«
    »Mein Vater?« rief ich, indem sich meine Angst in hohe Freude
verwandelte. »Wirklich, mein Vater? Wie gut von ihm, daß er kommt.
Aber wo ist er, warum läßt man ihn nicht ein?«
    Der Bürgermeister wurde nun wieder freundlicher und erhob sich,
indem er der Wärterin einen Wink gab, die Zelle zu verlassen.
Während sie beide hinausgingen, trat mein Vater ein.
    Wie glücklich war ich, das alte, liebe
Gesicht zu sehen! Ich streckte meinem Vater die Hand entgegen und
sagte:
    »Also bist du gesund? Und wie geht es Elisabeth? Wie geht es
Ernst?«
    Die Antwort meines Vaters beruhigte mich und ein schwacher
Schimmer von Freude zog in mein gequältes Herz. »Wo muß ich dich
antreffen, mein armes Kind!« sagte mein Vater, indem er traurig auf
das vergitterte Fenster und die armselige Einrichtung

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