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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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und Spechten verbringen
durfte, ermöglichten ihm ein gnädiges Vergessen. Gegen den anderen Teil seiner
Arbeit - Förderanträge schreiben, Literatur zum Bestand wildlebender Tiere
sichten, Kaltanrufe wegen einer neuen Umsatzsteuer zugunsten jener staatlichen
Stiftung zur Landschaftserhaltung tätigen, die bei den Wahlen von 2008 letztlich
mehr Stimmen bekommen hatte als selbst Obama - war ebenso wenig zu sagen.
Spätabends machte er sich eine der fünf schlichten Mahlzeiten, mit denen er
sich noch abgab, und da er nicht mehr imstande war, Romane zu lesen, Musik zu
hören oder sonst irgendetwas zu tun, das mit Gefühlen einherging, gönnte er
sich danach eine Partie Computerschach oder Computerpoker und manchmal auch die
Art von primitiver Pornographie, die mit menschlichem Empfinden nichts zu
schaffen hat.
    In Stunden
wie diesen kam er sich wie ein kranker, alter Widerling vor, der in den Wäldern
lebt, und er achtete tunlichst darauf, sein Telefon abzuschalten, für den Fall,
dass Jessica anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. Bei Joey konnte er trotz
allem noch er selbst sein, weil Joey nicht nur ein Mann, sondern ein Berglund
war, zu distanziert und zu taktvoll, um sich einzumischen, und obwohl die Sache
bei Connie kniffliger war, weil in ihrer Stimme immer Erotik mitschwang, Erotik
und ein argloser Hang zum Flirten, fiel es ihm doch nie schwer, sie dazu zu
bringen, von sich selbst und Joey zu erzählen, so glücklich war sie. Die
eigentliche Tortur waren die Anrufe von Jessica. Ihre Stimme klang mehr denn
je wie Pattys, und oft war Walter am Ende ihrer
Telefonate schweißgebadet, weil er sich so anstrengen musste, die
Gesprächsthemen auf ihr Leben oder, wenn das nicht klappte, auf seine Arbeit
einzugrenzen. Vor geraumer Zeit, nach dem Autounfall, der effektiv sein Leben
beendet hatte, war Jessica einfach bei ihm hereingeplatzt, um ihn in seiner
Trauer zu umsorgen. Unter anderem hatte sie das in der Erwartung getan, er
werde es bald verwunden haben, und als sie dann merkte, dass er es nicht
verwinden würde, gar keine Lust hatte, es zu verwinden, es nie würde verwinden
wollen, war sie sehr wütend auf ihn geworden. Er hatte mehrere harte Jahre
gebraucht, um ihr, mit Frostigkeit und Strenge, klarzumachen, dass sie ihn in
Ruhe lassen und sich ihrem eigenen Leben widmen solle. Jedes Mal, wenn jetzt
Schweigen zwischen ihnen aufkam, konnte er regelrecht spüren, wie sie überlegte,
ob es nicht angebracht wäre, an ihren therapeutischen Vorstoß anzuknüpfen, und
er fand es zutiefst zermürbend, sich Woche für Woche neue Gesprächsschachzüge
auszudenken, um sie davon abzuhalten, das zu tun.
    Als er
schließlich von seiner Mission in Minneapolis zurückkehrte,
nach einem ergebnisreichen dreitägigen Aufenthalt im Beltrami
County auf einem Flurstück der Conservancy, hing an der Birke ganz vorne an seiner Einfahrt ein Blatt Papier. H ast du mich gesehen? stand
darauf. I ch heisse bobby und meine familie vermisst mich. Bobbys schwarzes Gesicht kam auf der Kopie nicht gut heraus - seine
bleichen, frei schwebenden Augen wirkten geisterhaft und verloren -, aber auf
einmal, anders als je zuvor, begriff Walter, warum jemand so ein Gesicht Schützens- und liebenswert finden konnte.
Zwar bereute er es nicht, eine Bedrohung des Ökosystems aus der Welt geschafft
und damit viele Vogelleben gerettet zu haben, doch die
Kleintier-Verletzlichkeit in Bobbys Gesicht
machte ihm einen fatalen Defekt seiner eigenen Veranlagung bewusst: nämlich
den, dass er sogar mit den Geschöpfen, die er am meisten verabscheute, Mitleid
empfand. Er fuhr die Einfahrt entlang und versuchte, den momentanen Frieden zu
genießen, der sich auf sein Grundstück herabgesenkt hatte, das Freisein von
jeder Angst wegen Bobby, das Frühlingsabendlicht, die Weißkehlammern mit ihrem Grüß mir
Kanada Kanada Kanada-Gesang, aber er hatte das Gefühl, in den
vier Nächten seiner Abwesenheit um Jahre gealtert zu sein.
    Ausgerechnet
an diesem Abend, während er sich Eier briet und Brot toastete, rief Jessica an.
Und vielleicht hatte sie schon mit einer bestimmten Absicht angerufen, oder
vielleicht nahm sie jetzt etwas in seiner Stimme wahr, eine Art verminderter
Entschlossenheit, jedenfalls verfiel er, sobald die spärlichen Neuigkeiten, die
ihre zurückliegende Woche hervorgebracht hatte, erschöpft waren, in ein so
langes Schweigen, dass sie sich ermutigt fühlte, an ihren alten Vorstoß
anzuknüpfen.
    «Also, ich
habe mich neulich Abend mit Mom getroffen»,

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