Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
Politik und Diplomatie keine Ahnung. Er hatte nie im Staatssekretariat gearbeitet. Schlimmer noch, er muss gegen seinen Ruf ankämpfen. Tarcisio Kardinal Bertone ist ein großer Fußballfan, er wird Kardinal Ratzinger mehrfach den »Beckenbauer der Theologie« nennen, in seiner Heimatdiözese in Genua hat er sich dazu hinreißen lassen, Fußballspiele zu kommentieren. Aber kann man einen Chefdiplomaten ernst nehmen, der sich nebenbei als Fußballkommentator verdingt, und das ausgerechnet als hochwürdiger Staatssekretär des Vatikans, als wichtigster Mann des Vikars Jesu Christi?
Benedikt XVI . schlägt alle Warnungen in den Wind und ernennt Bertone am 22. Juni 2006 zum Staatssekretär. Zu den zahlreichen Handicaps, mit denen Bertone kämpfen muss, gehört, dass der oberste Diplomat und Chef der Außenpolitik kein Wort Englisch spricht und angesichts seines fortgeschrittenen Alters das auch nicht mehr lernen will. Eines spricht jedoch für Bertone: Er hat das absolute Vertrauen des Papstes, und im Vatikan hegt man die Hoffnung, dass dieses totale Vertrauensverhältnis die Nachteile aufwiegen wird. Wird es aber nicht. Die Falle ist schon zugeschnappt, und Benedikt XVI . gelingt es jetzt nicht mehr, aus ihr herauszukommen: Er hat zu Beginn seines Pontifikates im Jahr 2006 zu viel Respekt vor Angelo Kardinal Sodano, der seit 1991, seit über 14 Jahren, Kardinalstaatssekretär ist, und überlässt ihm die Politik. Er mischt sich im ersten Jahr nie ein.
Als Tarcisio Bertone, sein Freund, in diesem Amt nachfolgt, mischt sich Benedikt XVI . erst recht nicht ein, weil er jetzt das Gefühl hat, dass die Politik des Vatikans nun in guten Händen sei. Benedikt XVI . verpasst etwas sehr, sehr Wichtiges für jeden Papst: Er stellt sich nicht eindeutig an die Seite der Menschen. Ein Papst hat einen klaren Platz einzunehmen, an der Seite der Schwachen, der Armen, derer, die allein gelassen wurden. Sein Nachfolger Jorge Mario Bergoglio wird auf drastische Weise zeigen, wie man das mit wenigen klaren Gesten machen kann. Aber auch schon Johannes Paul II . hatte vorgemacht, wie das geht. Er hatte sich gegen die kommunistischen Regime in Osteuropa gestellt, an die Seite derer, die von Haft bedroht waren, die hungerten, die ausgebeutet wurden. Er hat sich als ihr Verteidiger gefühlt, denn das war seine Botschaft: Habt keine Angst.
Für Papst Benedikt XVI . kommt die erste Chance, ein Zeichen zu setzen, im Mai 2007. Die erste Reise nach Lateinamerika steht an, dem Kontinent der Hoffnung. Brasilien hat mit einem kolossalen Wandel zu kämpfen, scharenweise verlassen die Menschen die katholische Kirche, um zu den Freikirchen zu wechseln. Innerhalb von 30 Jahren, in einer einzigen Generation, ging der katholischen Kirche Brasiliens ein Drittel ihrer Gläubigen verloren. Dennoch gibt es immer noch 120 Millionen Katholiken in dem riesigen Land. Viele von ihnen sind bitterarm, leben in Favelas unter unmenschlichen Bedingungen. Wie man das macht, sich in Südamerika an die Seite der Menschen zu stellen, hatte Karol Wojtyła mit einer geradezu unerhörten Geste gezeigt. Er hatte ein Armenviertel in Rio de Janeiro besucht, das nur ein paar hundert Meter von einem Luxushotel und dem berühmten Strand von Copacabana entfernt liegt. Angesichts der schier unglaublichen Armut schenkte der Papst seinen Siegelring, den Ring des Fischers, einer alleinerziehenden Mutter und ihren Kindern. Das war ein Skandal, das war noch nie vorgekommen. Der Ring des Papstes, der Fischerring, ist das Zeichen der Würde des Papstes, er muss nach seinem Tod zerstört werden. Ihn wegzuschenken schien unerhört. Auch wenn die Kurie den rebellischen Papst aus Polen für diese Geste jahrelang rügen wird, bei den Menschen Lateinamerikas hinterlässt das einen gewaltigen Eindruck. Denn es bedeutet: Er steht zu uns, er lässt uns nicht allein, er gibt uns das einzig Wertvolle, das er bei sich hat, den Fischerring. Von diesem Tag an werden alle nachfolgenden Lateinamerikareisen dieses Papstes ein Triumphzug werden.
Die Voraussetzungen der Brasilienreise des Joseph Ratzinger waren ähnlich gut wie seinerzeit diejenigen von Karol Wojtyła beim gleichen Anlass. Benedikt XVI . wollte Kinder und Jugendliche treffen, die drogenabhängig geworden waren. Ein von den Sternsingern in Deutschland mitfinanziertes Projekt sollte dem Papst die Gelegenheit geben, in der Nähe von Aparecida bei São Paulo mit diesen Menschen, die wie Ausgestoßene der Gesellschaft behandelt werden,
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