Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
lässt kurz vor dem vierten Wahlgang seinen Blick noch einmal durch die Sixtinische Kapelle wandern, um den Kardinälen eindringlich in die Augen zu schauen und sie an eine simple Tatsache zu erinnern: Die Hälfte von ihnen sitzt nur deswegen hier, weil Bertone es so wollte. Jetzt ist die Stunde gekommen, in der die Rechnung präsentiert wird. Sie müssen ihm einfach den Rücken stärken und Bergoglio verhindern. Seit Beginn seiner Amtszeit vor sieben Jahren hat Tarcisio Bertone maßgeblich entschieden, wer Kardinal werden darf und wer nicht. Er will ein Kardinalskollegium, das dasteht wie eine Burg, um Jorge Mario Bergoglio zu verhindern.
In der Kurie kennen alle Bergoglios Spitznamen, sie nennen ihn den »alten Jesuiten«. Das tun sie, weil er im Unterschied zu den neuen Jesuiten kein Mann ist, der seine Zeit am liebsten mit den Wissenschaften verbringt, sondern einer der Jesuiten vom alten Schlag, die Lateinamerika mit aufgebaut und nicht vergessen haben, dass der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola, vor allem eines war: ein Soldat Gottes. Und genau so verhält er sich. Trotz aller Freundlichkeit und Demut, trotz seiner eindrucksvollen Bescheidenheit und Einfachheit ist er ein Krieger, ein Krieger, der einstecken kann, wenn er einstecken muss, der aber auch austeilen kann, wenn er es für nötig hält.
Der Streit der Kurienkardinäle mit Bergoglio war im Laufe der Jahre so heftig geworden, dass sie schließlich die extreme Entscheidung trafen, die sie immer treffen, wenn es mit einem Kardinal beim besten Willen nicht geht: Sie boten ihm einen Posten in der Kurie an, einen guten Posten, er sollte einer von ihnen werden. Er sollte den Chefsessel der Kongregation für den Klerus bekommen. Dann konnte er sich weltweit mit rebellischen Priestern herumschlagen, wie er aus Sicht der Kurie selber einer war. Doch dann geschah etwas, das eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen: Er lehnte ab. Die Kurie konnte es nicht fassen. Normalerweise kann es Kardinälen aus weit entfernten Weltgegenden wie Argentinien gar nicht schnell genug gehen, nach Rom zu kommen. Doch Bergoglio wollte partout nicht. Er durchschaute das Spiel, dass die Kurie immer wieder versuchte, unliebsame Kandidaten nach Rom zu locken. So war es mit dem einst brillanten Bischof Emmanuel Milingo geschehen, dem Erzbischof von Lusaka, der sich nach Rom auf den Posten des Päpstlichen Rats für die Seelsorge der Migranten hatte abschieben lassen und daran zerbrochen war. Bergoglio ließ sich nicht verführen, er wollte einfach in Argentinien bleiben, und die Kurienkardinäle fragten sich die ganze Zeit, warum er sich das eigentlich antat. Statt im Zentrum der kirchlichen Macht in Rom bequem dem Ruhestand entgegenzusehen, musste er in Buenos Aires eine Schlacht nach der anderen schlagen, gegen die eigenen Leute, vor allem gegen die Brüder aus dem eigenen Orden, aber auch gegen die Regierung und gegen eine ganze Armee von Kritikern. Wenn es für die Kurienkardinäle einen Albtraum gibt, dann heißt der Bergoglio.
Vor dem vierten Wahlgang erklärt Bertone die Marschrichtung. Angelo Kardinal Scola soll der nächste Papst werden, das scheint die beste Lösung zu sein. Die Kardinäle wissen, dass sie schlicht und einfach weitermachen können, indem sie den Erzbischof von Mailand oder den Patriarchen von Venedig zum Papst wählen. Das hatte man über viele Jahrhunderte immer wieder getan, und es hatte gut geklappt. Der Zufall will, dass der derzeitige Mailänder Erzbischof Angelo Scola auch schon Patriarch von Venedig gewesen war. Im ersten Wahlgang sollte Angelo Scola etwa ein Viertel der Stimmen bekommen. Bertone ist enttäuscht und fragt sich: Warum so wenige?
Scola hat einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Seit seiner Ankunft in Rom hatte sich Scola nicht wie ein normaler Kandidat aufgeführt, sondern so, als wäre er bereits der nächste Papst. Die übrigen Kardinäle hatten mit Befremden mit angesehen, wie Scola sich wie eine Majestät verkaufte. Er bemühte sich sogar, einen wichtigen gegen ihn erhobenen Vorwurf zu entkräften: Scola predigt oft so kompliziert, dass ihn keiner mehr versteht. Sobald er jedoch in Rom angekommen war, hielt er extrem volksnahe Predigten. Zu seiner Siegesgewissheit hatte er auch allen Grund; Tarcisio Bertone hatte ihm schließlich versprochen, dass er gewählt werden würde. Dass Bertone einen Ersatzkandidaten in petto hat, den langjährigen brasilianischen Kurienkardinal Odilo Pedro Scherer, verschweigt er Angelo
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