Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
verändern würde. Aber was den künftigen Papst emeritus erwartete, hatte sich Ratzinger sicher noch nicht eingestanden. Menschen neigen dazu, zu hoffen, dass das Schlimmste nicht eintreffen werde. Kein Paragraf des Kirchenrechts schreibt einem Papst a. D. vor, was er nach seinem Rücktritt zu tun und zu lassen habe. Ich bin mir sicher, dass Benedikt XVI . anfangs noch dachte, dass auch ihm ein menschenwürdiger Lebensabend zustand. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass er zumindest in den ersten Monaten, in denen er seinen Rücktritt plante, noch glaubte, dass sein guter Wille ausreichen würde. Ihm dürfte bewusst gewesen sein, worum es ging. Ein zurückgetretener Papst durfte sich auf keinen Fall in die Amtsgeschäfte seines Nachfolgers einmischen, und das würde er auch auf keinen Fall tun. Er wollte doch nichts weiter, als mit seinem älteren blinden Bruder auf einer Bank im Grünen zu sitzen, ihm aus der Bibel vorzulesen und im Übrigen auf die Stunde zu warten, in der er vor seinen Herrn treten würde.
Ich weiß nicht, wann es Benedikt XVI . dämmerte, dass sein guter Wille nicht ausreichen würde. Irgendwann muss ihm klar geworden sein, dass sein Nachfolger weit mehr erwarten würde als die absolute Loyalität und den Gehorsam des Joseph Ratzinger. Er würde etwas anderes verlangen: absolute Sicherheit, dass von Joseph Ratzinger keinerlei Gefahr ausging. Aber genau das konnte der alte Mann nicht garantieren. Was würde passieren, wenn er in Bayern friedlich im Hause seines Bruders säße und eine Tageszeitung würde ein Interview mit ihm abdrucken, ein erfundenes, in dem er seinen Nachfolger scharf kritisiert? Was würde passieren, wenn dann 100000 Menschen auf dem Petersplatz stünden und lauthals die Rückkehr von Papst Benedikt XVI . forderten? Er, Ratzinger, hätte dann nicht die geringste persönliche Schuld auf sich geladen, aber dies würde seinem Nachfolger nicht ausreichen. Vielmehr würde dieser erwarten, dass so etwas erst gar nicht passieren kann.
Deshalb gab es nur eine Möglichkeit: Joseph Ratzinger musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass sein Albtraum wahr werden würde, dass er den Rest seiner Tage in einem Gefängnis verbringen würde, weil er nur so, mit der Zerstörung all seiner Hoffnungen und mit der Aufgabe aller Träume und mit dem Verzicht auf das letzte bisschen Trost, seinem Nachfolger eine Garantie dafür geben konnte, dass er sich niemals mehr einmischen werde. Er musste ein Gefangener werden.
Ich denke dabei immer an diesen Gottesdienst in Freising vom 14. September 2006, als Benedikt XVI . dort improvisierte. Er sagte: »Ich habe euch eine Predigt mitgebracht, aber ich werde sie jetzt nicht vorlesen, die kann man dann später ja auch gedruckt lesen.« Er schrie damals frei improvisierend förmlich heraus: »Es ist deine Kirche!« Joseph Ratzinger wollte sagen: Ich kann die Probleme der Kirche nicht allein lösen. Das war auch der Tag, an dem er sich mit dem Bären des Korbinian verglich. Wie oft mochte er am Schrein des heiligen Korbinian, der in Freising verehrt wird, gebetet haben? Wie oft mochte er über die eigenartige Geschichte des Bischofs nachgedacht haben, die Geschichte des Bären, der das Wappentier der Bischöfe von Freising ist? Der Bär war so unvorsichtig gewesen, das Pferd des Korbinian zu fressen, der nach Rom hatte reisen wollen. Korbinian wurde sauer und belud jetzt den Bären mit seinen Sachen und trabte mit ihm nach Rom. Ich weiß noch, wie Joseph Ratzinger damals in der Kathedrale in Freising die Worte aussprach: »Der Bär des Korbinian ist in Rom freigelassen worden, ich selber wurde es nicht.«
Schatten über dem Konklave
Die Wahl von Papst Franziskus, dem 265. Nachfolger des heiligen Petrus, bedeutet den Anfang einer neuen Epoche. Das liegt nicht allein daran, dass Franziskus seit dem Rücktritt von Coelestin V. im Jahr 1294 erst als zweiter Papst überhaupt sein Amt antritt, obwohl sein Vorgänger noch lebt, sondern auch daran, dass zum ersten Mal unter den Kardinälen der Welt öffentlich darüber beraten wird, ob und wann ein Kardinal überhaupt würdig ist, einen Papst zu wählen. So markiert auch der Skandal um den am 25. Februar 2013 zurückgetretenen schottischen Kardinal Keith O’Brien den Beginn eines neuen Zeitalters.
Ob ein Kardinal würdig ist, einen Papst zu wählen, stand bisher nie zur Debatte. Seit dem Jahr 1089 haben die Kardinäle, und nur sie, das Recht inne, den Papst zu wählen. Die modernen Regeln der
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