Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
während des Weltjugendtags 2008 in Sydney den Posten in Aussicht gestellt, aber dann war wohl irgendetwas zwischen den beiden Männern geschehen, und Joseph Ratzinger gab den Superjob einem anderen Kardinal, dem Kanadier Marc Ouellet. Der besaß Joseph Ratzingers absolutes Vertrauen, weil er in der von diesem mitgegründeten Zeitschrift Communio mitarbeitete und sich in den konservativen Ansichten des Papstes wiederfand. Die Bevorzugung Ouellets hatte Pell ganz offensichtlich schwer enttäuscht. Mir persönlich hatte das sehr leidgetan, ich hatte Kardinal Pell während des Weltjugendtags in Sydney 2008 kennen- und schätzen gelernt. Ein konservativer, aber sehr gescheiter Mann!
Doch wo jetzt wieder einen Heiligen hernehmen? Gab es überhaupt einen unter den 115 wahlberechtigten Kardinälen, der dafür infrage kam? Manche Kardinäle, zum Beispiel der Südafrikaner Wilfried Fox Napier, der sich bereitwillig vor dem Hotel Kolumbus interviewen ließ, fragten ihrerseits die Reporter, ob es nach ihrer Meinung einen Heiligen unter den Kardinälen gebe. Ich musste die Antwort darauf schuldig bleiben, aber ich dachte spontan an Karol Wojtyła.
Wojtyła hat die Religion nicht erklärt, wie das Joseph Ratzinger tun wollte. Er hat sie einfach nur gelebt, er hat das Unmögliche versucht, mit nichts als seinen leeren Händen und seinem Glauben. Als die Gesellschaft der Meinung war, dass die Jugend sich definitiv von der Kirche abgewandt habe, erfand er die Weltjugendtage. Millionen sollten zu ihnen kommen. Als General Wojciech Jaruzelski die Revolte der Gewerkschaft Solidarno ść und die Kirche in Polen unterdrückte, stemmte sich Karol Wojtyła, der über keine Divisionen verfügte, gegen die Sowjets und ihre Vasallen und gewann – aber nicht, weil er sich für einen guten Theologen oder Politiker hielt, sondern für ein Werkzeug Gottes. Das war es gewesen, was ich gespürt hatte. Es war die Heiligkeit dieses Mannes.
Eine wichtige Weichenstellung für das Konklave im März 2013 war das Verbot für die Kardinäle, in das Gästehaus »Domus Sanctae Marthae« einzuziehen. Vielmehr wohnten die Kardinäle eines einzelnen Landes in Rom tage- oder gar wochenlang in einem Priesterkolleg oder in einem Haus, das die Bischofskonferenz ihres Herkunftslandes unterhielt, zusammen, teils schon seit der letzten Audienz von Papst Benedikt XVI . am 27. Februar. Die nationalen oder regionalen Gruppen der Kardinäle hatten also sehr viel Zeit gehabt, miteinander unter einem Dach zu beraten. Das führte dazu, dass die Kardinäle eines einzelnen Landes enger denn je zusammenrückten, sie zogen als geschlossene nationale Gruppen in das Konklave ein. Vor allem einer Gruppe kam diese Tatsache zugute: Die Kurienkardinäle wussten, dass sie gute Chancen hatten, aus ihren Reihen den neuen Papst zu stellen, wenn sie sich untereinander einig waren und wenn es vor allem den auswärtigen Kardinälen nicht gelang, eine internationale Allianz zu bilden und über alle Grenzen hinweg einen beliebten Gegenkandidaten aufzubauen. Aber dazu hätten Letztere Zeit gebraucht im »Domus Sanctae Marthae«, und genau die hatten sie nicht, weil die Kurie darauf bestand, dass die Kardinäle nicht sofort nach ihrer Ankunft in den Schmelztiegel des Kardinalhotels durften. Was die Kurienkardinäle maßlos unterschätzten, war der Groll, der sich gegen sie aufgebaut hatte, sodass es gar keiner langen Beratungen im Haus der heiligen Martha bedurfte, weil eines schon feststand: Ein Anti-Kurie-Mann musste her, und diesem Profil entsprach niemand so perfekt wie Jorge Mario Kardinal Bergoglio.
Kandidaten 1: Die Italiener
Die größte nationale Gruppe stellten natürlich die Italiener. Die Zeiten, da sie auf eine satte Mehrheit im Kardinalskollegium zählen konnten, waren zwar vorbei, aber mit 28 Kardinälen bildeten sie immer noch einen stattlichen Block. Von Anfang an war klar, dass einer von ihnen das Zeug zum Superstar hatte: Angelo Kardinal Scola.
Wenn die Kardinäle im Konklave sich früher die Entscheidung leicht machen wollten, dann hatten sie eine ganz simple Möglichkeit dazu, und die bestand darin, das zu tun, was die Kirche seit Jahrhunderten getan hatte: nämlich den Patriarchen von Venedig oder den Erzbischof von Mailand zum Papst zu befördern. Das hatte immer gut geklappt. Aus Venedig wurde Patriarch Giuseppe Sarto 1903 zu Papst Pius X. gewählt, Patriarch Angelo Roncalli 1958 zu Papst Johannes XXIII . und Patriarch Albino Luciani 1978 zu Papst Johannes Paul I.
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