Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
wahlberechtigten Kardinäle, die es trotz des Beginns der Beratungen bisher nicht für nötig gehalten hatten, in Rom aufzutauchen. Darunter waren bis auf den Münchner Kardinal Reinhard Marx alle deutschen Kardinäle, die nicht in Rom wohnten und offenbar den kurzen Weg über die Alpen noch nicht hatten antreten wollen: Karl Lehmann, Joachim Meisner und Rainer Maria Wölki. Die Kardinäle Walter Kasper und Paul Josef Cordes mussten nicht anreisen, sie wohnten ja in Rom.
Die Stimmung am ersten Tag der Beratungen in der Audienzhalle » Papst Paul VI .« war gekennzeichnet durch große Ratlosigkeit. Wo sonst die Pilgerströme einem Papst zujubeln, besprachen die Kardinäle zum ersten Mal persönlich untereinander, wer der nächste Papst sein könnte. In den zahlreichen Interviews, die die Kardinäle vor Beginn der Kongregationen gegeben hatten, ging es stets darum, wie schwer es sein würde, den richtigen Mann zum Papst zu wählen.
Das Hauptproblem schien nahezu unüberwindlich, denn die Kardinäle wussten, dass das letzte Mal ein echter Heiliger vonnöten gewesen war, um die Probleme der Kirche anzugehen. Was immer sie in den kommenden Tagen auch tun würden, es hätte nur mit diesem einzigen Punkt zu tun. Sie mussten also versuchen zu erraten, wer unter ihnen ein Heiliger sein konnte. Es gab eine ganze Reihe von Kardinälen, die vor Beginn der Kardinalskongregation direkt aussprachen, was die große Mehrheit dachte: Es war ihnen völlig egal, woher der künftige Papst kommen, welche Sprache er sprechen oder welche Hautfarbe er haben würde. So betonte das kurz vor dem Konklave noch einmal etwa der spanische Kardinal Carlos Amigo Vallejo. Hauptsache, es würde einer mit dem Nimbus eines Heiligen sein, der sein Amt bravourös erfüllen würde, wie es Karol Wojtyła getan hatte.
Denn dass Wojtyła heiliggesprochen werden würde, daran hatten die Kardinäle nicht den geringsten Zweifel. Das hatte bereits die überwältigende weltweite Reaktion auf seine Seligsprechung vom 1. Mai 2011 gezeigt. Das Kirchenvolk hatte die Forderungen, die bereits am Tag des Todes von Karol Wojtyła Rom geprägt hatten – »santo subito«, was bedeutete, dass er sofort heiliggesprochen werden sollte – nicht vergessen.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, welchen Eindruck, die mehr als 250000 jungen Menschen auf die Kardinäle machten, die sich am 29. März 2005, kurz vor dem Tod von Papst Johannes Paul II ., auf dem Petersplatz versammelt hatten und die alten Weltjugendtagsschlager sangen wie »Jesus Christ, you are my life«. Ich weiß noch, wie Kardinäle wie der Erzpriester von Sankt Peter, Angelo Comastri, über den Platz gingen und die jungen Leute fragten: Wer hat euch geschickt? Welche Diözese hat eure Reise organisiert? Wer hat das bezahlt? Wo kommt ihr unter? Kardinäle wie Comastri konnten es nicht fassen, dass diese jungen Menschen aus der ganzen Welt aus eigenem Antrieb gekommen waren. Sie hatten ihre Konten geplündert in den USA , in Deutschland, in Polen, in Argentinien und waren nach Rom gekommen, weil sie dem sterbenden Papst nahe sein wollten. Ich habe gesehen, wie Kardinälen wie Comastri die Tränen in den Augen standen. Die jungen Menschen auf dem Platz glaubten, dass der Papst und die Kirche die Welt zum Besseren verändert hatten, sie waren gekommen, um sich zu bedanken. Nie zuvor habe ich ein so positives Beispiel der Glaubensstärke gesehen.
Acht Jahre später hatten die Kardinäle klar erkannt, dass der Abschied des Joseph Ratzinger nicht einmal im Ansatz eine ähnliche Reaktion der Gläubigen ausgelöst hatte wie der Tod des Karol Wojtyła. Kardinaldekan Angelo Sodano schickte am 5. März 2013 im Namen der Kongregation der Kardinäle ein kaltes, geschäftsmäßiges Telegramm an den zurückgetretenen Papst in Castel Gandolfo. Er spricht von großer Dankbarkeit für das Werk des Papstes und von besonderer Freude. Ich habe in 25 Jahren Hunderte nichtssagende Telegramme aus dem Vatikan gelesen. Immer ging es darum, irgendeinen Bischof oder Kardinal nach einer langen Dienstzeit zu verabschieden. Dieses Telegramm an Joseph Ratzinger war genauso: ohne jegliche Anteilnahme oder Regung. Ausgerechnet die seit Jahrhunderten mit der römisch-katholischen Kirche verfeindete russisch-orthodoxe Kirche, die bisher alle Pläne eines Papstbesuchs in Moskau ablehnte, hatte dem Papst kurz zuvor ebenfalls ein Telegramm geschickt, das voller Wärme und Anerkennung war. Kirill I., der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche,
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