Fratze - Roman
Du musst einfach nur aufpassen, dass du mit dem Rouge nicht so harte Linien ziehst.« Wir betrachteten uns selbst im Schminkspiegel, während eine Dreierreihe von Nobodys uns von hinten beobachtete.
»Hier, Süße«, sagte ich und reichte ihr einen kleinen Schwamm, »verwisch es ein bisschen.«
Und Evie fing an zu weinen. Jedes deiner Gefühle
wächst sofort ins Übertriebene, wenn du Publikum hast. Lachen oder weinen, dazwischen gibt es nichts. Bei diesen Tigern im Zoo, da muss ständig ganz große Oper sein.
»Es ist nicht nur, dass ich so gern ein glamouröses Model sein möchte«, sagte Evie. »Aber wenn ich an meine Kindheit denke, werde ich immer so traurig.« Evie unterdrückte ihre Tränen. »Als ich klein war, wünschten sich meine Eltern immer, ich wäre ein Junge.« Sie sagte: »Ich wollte nur nie wieder so unglücklich sein.«
Bei anderen Gelegenheiten trugen wir Stöckelschuhe und taten so, als würden wir uns gegenseitig voll ins Gesicht schlagen, wegen irgendeinem Kerl, hinter dem wir beide her waren. An einigen Nachmittagen gestanden wir einander, dass wir Vampire waren.
»Ja«, sagte ich. »Meine Eltern haben mich auch immer misshandelt.«
Man musste den Leuten schon ein bisschen was bieten.
Evie drehte sich ihre Haare um die Finger. »Ich lass mir ein Guiche-Piercing machen. Das sitzt quer in der Naht zwischen deinem Arschloch und dem unteren Ende der Vagina.«
Ich schmiss mich immer mal wieder aufs Bett, in der Bühnenmitte, umarmte ein Kissen und blickte hinauf in das schwarze Gewirr aus Rohren und Sprinklern, das man sich als Schlafzimmerdecke vorstellen musste.
»Nicht dass sie mich geschlagen oder gezwungen hätten, satanisches Blut zu trinken oder so was«, sagte ich. »Sie hatten meinen Bruder nur lieber, weil er entstellt war.«
Und Evie trat in die Bühnenmitte neben den altamerikanischen Nachttisch, um mir die Schau zu stehlen.
»Du hattest einen entstellten Bruder?«, sagte sie.
Irgendeiner von denen, die zuschauten, hustete vielleicht. Oder das Licht glitzerte auf einer Armbanduhr.
»Ja, er war ziemlich entstellt, aber es sah nicht irgendwie sexy aus oder so. Trotzdem, es gibt ein Happy End«, sagte ich. »Er ist tot.«
Und richtig eindringlich fragte Evie dann: »Wie entstellt? War er dein einziger Bruder? Älter oder jünger?«
Und ich wälzte mich vom Bett und schüttelte meine Haare. »Nein, das ist alles zu schmerzhaft.«
»Nein, sag doch mal«, sagte Evie. »Ich will dich nicht verarschen.«
»Er war ein paar Jahre älter als ich. Sein Gesicht ist bei einem Haarspray-Unfall entstellt worden, und man könnte glauben, meine Eltern hätten total vergessen, dass sie noch ein zweites Kind hatten.« Ich tupfte mir die Augen an der Kissenhülle ab und teilte dem Publikum mit: »Also habe ich mich nur immer noch mehr angestrengt, damit sie mich lieben.«
Evie blickte ins Leere und sagte: »Ach du meine Scheiße! Ach du meine Scheiße !« Und ihr Vortrag, ihre Darstellung, war so glaubwürdig, dass ich glatt einpacken konnte.
»Ja«, sagte ich. »Er musste nichts dafür tun. Es war so leicht. Einfach dadurch, dass er ganz verbrannt war und von Narben übersät, hat er alle Aufmerksamkeit eingesackt.«
Evie rückte nahe an mich heran und sagte: »Und wo ist er jetzt, dein Bruder, weißt du das?«
»Tot«, sagte ich und wandte mich dem Publikum zu. »Gestorben an Aids.«
Und Evie sagt: »Wie sicher bist du dir?«
Und ich sage: »Evie!«
»Nein, im Ernst«, sagt sie. »Ich frage aus einem bestimmten Grund.«
»Man macht einfach keine Witze über Aids«, sagte ich.
Und Evie sagte: »Das ist so was von praktisch unmöglich.«
Da sieht man, wie leicht einem so ein Plot außer Kontrolle geraten kann. Angesichts all der Kaufhauskunden, die ein echtes Drama erwarteten, dachte ich aber natürlich, Evie würde sich einfach irgendwelche Sachen ausdenken.
»Dein Bruder«, sagt Evie, »hast du wirklich gesehen, wie er gestorben ist? In echt? Oder hast du ihn tot gesehen? In einem Sarg und so, mit Musik? Oder einen Totenschein?«
Alle diese Leute sahen zu.
»Ja«, sagte ich. »So ziemlich.« Als ob ich mich beim Lügen ertappen lassen würde.
Evie lässt nicht locker. »Hast du ihn jetzt tot gesehen oder nicht?«
Alle diese Leute sehen zu.
»Tot genug.«
Evie sagt: »Wo?«
»Das ist jetzt sehr schmerzhaft«, sage ich und gehe zur rechten Bühnenseite, hinüber ins Wohnzimmer.
Evie jagt mir nach, sagt: »Wo?«
Alle diese Leute sehen zu.
»Im Hospiz«, sage
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