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Fratze - Roman

Titel: Fratze - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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lineallangen Zeigefinger, an dem allein schon sechs Cocktailringe stecken, und fährt mir mit diesem juwelengeschmückten Hotdog kreuz und quer über den Mund, sobald ich etwas zu sagen versuche.
    »Kein Wort«, sagt Brandy. »Du hängst noch zu sehr an deiner Vergangenheit. Es hat überhaupt keinen Sinn, dass du was sagst.«
    Aus ihrem Nähkorb zieht Brandy ein Luftgebilde aus Weiß und Gold, eine magische Handlung, ein reinweißer Seidenvolant mit griechischem geometrischem Muster in Gold, und das Ganze wirft sie mir über den Kopf.
    Hinter diesem weiteren Schleier ist die reale Welt noch viel weiter weg.
    »Rat mal, wie sie das Goldmuster gemacht haben«, sagt Brandy.
    Das Gewebe ist so leicht, dass mein Atem es bauscht; die Seide liegt auf meinen Wimpern, ohne sie zu knicken. Sogar mein Gesicht, wo alle Nerven im Körper enden, selbst das Gesicht spürt sie nicht.
    Man braucht dafür Kinder in Indien, sagt Brandy, vierund fünfjährige Kinder, die den ganzen Tag auf Holzbänken sitzen, alles Vegetarier, und sie müssen Zigtausende von Goldfäden mit der Pinzette ziehen, bis eben dieses Muster übrig geblieben ist.
    »Kinder älter als zehn, die diesen Job machen, wirst du nicht finden«, sagt Brandy, »denn bis dahin sind die meisten schon blind.«
    Allein dieser Schleier, den Brandy aus ihrem Korb holt, er muss zwei mal zwei Meter groß sein. Das kostbare Augenlicht all dieser lieben Kinder, für immer verloren. Die
kostbare Zeit ihrer zarten Kindheit, vergeudet damit, Seidenfäden mit der Pinzette zu ziehen.
    Gib mir Mitleid.
    Blitz.
    Gib mir Einfühlung.
    Blitz.
    Ach, ich wünschte, ich könnte mein armes Herz zerbrechen lassen.
    Ich sage: »Vswf siws cm eiuvn sincs.«
    Nein, das ist schon in Ordnung, sagt Brandy. Sie möchte niemanden dafür belohnen, dass er Kinder ausbeutet. Der Schleier war ein Sonderangebot.
    Gefangen hinter meiner Seide, in meiner Wolke aus Organza und Georgette, hat die Vorstellung, dass ich meine Probleme nicht mit anderen Leuten teilen kann, zur Folge, dass ihre Probleme mich einen Scheiß interessieren.
    »Oh, und keine Sorge«, sagt Brandy. »Aufmerksamkeit wirst du trotzdem kriegen. Was Arsch und Titten betrifft, bist du spitzenmäßig ausgerüstet. Du kannst nur halt mit niemandem reden.«
    Die Leute können es nicht ertragen, etwas nicht zu wissen, erklärt sie mir. Vor allem Männer halten es nicht aus, wenn sie nicht jeden Berg ersteigen und alles genau kartografieren. Müssen überall ein Etikett ranheften. Pissen an jeden Baum, und dann rufen sie einen nicht mehr an.
    »Hinter einem Schleier bist du die große Unbekannte«, sagt sie. »Die meisten Typen werden alles tun, um dich kennenzulernen. Einige werden leugnen, dass du eine reale Person bist, und einige werden dich einfach ignorieren.«
    Der Fanatiker. Der Atheist. Der Agnostiker.

    Selbst wenn jemand nur eine Augenklappe trägt, will man garantiert nachsehen. Um festzustellen, ob er nur so tut als ob. Der Mann im Hathaway-Hemd. Oder um den Horror darunter zu sehen.
    Der Fotograf in meinem Kopf sagt:
    Gib mir eine Stimme.
    Blitz.
    Gib mir ein Gesicht.
    Brandys Antwort hieß: kleine Hüte mit Schleiern. Und große Hüte mit Schleiern. Pfannkuchenhüte und Pillbox-Hüte, rundherum mit Wolken aus Tüll besetzt. Fallschirmseide oder schwerer Krepp oder dichte, mit Chenillepompons übersäte Gaze.
    »Die langweiligste Sache auf der ganzen Welt«, sagt Brandy, »ist Nacktheit.«
    Die zweitlangweiligste Sache, sagt sie, ist Ehrlichkeit.
    »Betrachte es als Neckerei. Es ist Reizwäsche für dein Gesicht«, sagt sie. »Ein Schau-mich-an-Nachthemd, das du über deiner ganzen Identität trägst.«
    Die drittlangweiligste Sache der Welt ist deine jämmerliche Vergangenheit. Also hat Brandy mich nie etwas gefragt. Kommandiersüchtiges Rabenaas, das sie sein kann, treffen wir uns immer wieder in der Praxis der Sprachtherapeutin, und Brandy erklärt mir alles, was ich über mich wissen muss.

10
    S pringt zu Brandy Alexander, wie sie mich in ein Bett in Seattle steckt. Das ist die Nacht der Space Needle, die Nacht, in der die Zukunft nicht stattfindet. Brandy, sie trägt meterweise schwarzen Tüll um die Beine gewickelt, der sich dann auch noch aufwärts um ihre Wespentaille schlingt. Schwarzer Schleierstoff kreuzt ihre Torpedobrüste, schlingt sich weiter hoch um ihre kastanienbraunen Haare. Dieses Funkeln, das sich über mein Bett beugt, sieht aus wie eine getreue Miniaturnachbildung des Originalsommernachtshimmels.
    Strass, nicht

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